Robert Zion stellt auf 280 Seiten chronologisch geordnet 34 Noir Western vor und bietet auch Einblick in die Zerrissenheit der USA: Ein großartiges, von spürbarer Cinephilie durchzogenes und auch hervorragend bebildertes Filmbuch.
Die Cinephilie von Robert Zion wird schon spürbar, wenn er den vierten Band seiner Werkausgabe den in den letzten Jahren verstorbenen Filmjournalisten Wolf Eckhart Bühler (1945 – 2020), Hans Schifferle (1957 – 2021) und Hans Helmut Prinzler (1938 – 2023) widmet. Mit diesem Trio endete für den Autor das Goldene Zeitalter deutscher Filmpublizistik und sie waren ihm wohl auch Vorbild bei seinem neuen Buch.
Dem Noir Western hat sich Zion, der auch schon mit seinen Büchern unter anderem über Roger Corman, Rhonda Fleming und Fritz Lang begeisterte, seit 2018 im Rahmen einer Kolumne in der Zeitschrift "35 Millimeter – Das Retro -Filmmagazin" gewidmet. Daraus resultierte 2022 die 35 Millimeter Sonderausgabe "Auf dem Pfad der Verlorenen. Noir Western", die Zion für sein Buch um zehn Filme und umfangreiches Bildmaterial erweiterte. Auf einen Verlag verzichtete der Autor dabei und brachte sein neues Werk, um völlige Gestaltungsfreiheit zu haben, selbst bei Books on Demand heraus.
Auf eine kurze Einführung über die Genese des Buchs und eine Einbettung des Noir Western, der erst 2015 von David Meuel als solcher definiert wurde, in den Film noir, folgt die weitgehend chronologische Vorstellung von 34 Filmen.
Jeweils auf rund sechs Seiten werden die Western von William A. Wellmans "The Ox-Bow Incident" (1943) bis zu Peter Fondas "The Hired Hand" (1971) vorgestellt. Kurze Inhaltsangaben werden dabei immer wieder durch Hintergrundinformationen zur jeweiligen Thematik wie dem US-Faschismus bei "The Ox-Bow Incident", dem Rassismus bei Anthony Manns "Devil´s Doorway" (1950) oder der Gewaltkultur der USA bei mehreren Filmen, aber auch zum jeweiligen Regisseur, seinem Team oder formalen Besonderheiten ergänzt.
Da geht es um die für den Film noir charakteristische Rückblendenstruktur bei Raoul Walshs "Pursued" (1947) ebenso wie um die an "Das Cabinet des Dr. Caligari" anknüpfende Ästhetik von Alfred L. Werkers "Devil´s Canyon" (1953) oder das Spiel mit Licht und Schatten in Robert Wises "Blood on The Moon" (1948).
Der Einfluss des Horror-Produzenten Val Lewton auf die apokalyptische Stimmung von Hugo Fregoneses "Apache Drums" (1951) wird ebenso herausgearbeitet wie der Umgang mit der McCarthy-Ära in Fred Zinnemanns "High Noon" (1952) sowie Howard Hawks´ konservativem Gegenstück "Rio Bravo" (1959) und Allan Dwans progressiver Weiterentwicklung "Silver Lode" (1954).
Auch die Bedeutung eines Kameramanns wie Russell Harlan wird gewürdigt, während die Beschädigung von William A. Wellman´s "Yellow Sky" (1948), in dem Zion eine brillante Interpretation von Shakespeares "Der Sturm" sieht, und Sam Fullers "Forty Guns" durch ein vom Studio aufgezwungenes Happy End scharf kritisiert wird. Aber auch das vom klassischen Western abweichende Frauenbild im Noir Western vermittelt der Autor eindrücklich am Beispiel der starken Frauenfiguren von Veronica Lake in André de Toths "Ramrod" (1947) und Barbara Stanwyck in Anthony Manns "The Furies" (1950) und "Forty Guns" (1957).
Auf 29 Seiten würdigt Zion André de Toth und dessen visuelles Gespür und bettet seine drei großen Noir Western "Ramrod", "Last of the Comanches" (1953) und den herausragenden "Day of the Outlaw" (1959), dem 15 Seiten gewidmet werden, in die Karriere des gebürtigen Ungarn ein.
Ein übergreifendes Kapitel gibt es auch zu Anthony Mann, dessen sexuell aufgeladene Vater-Tochter-Beziehung "The Furies", "Devil´s Doorway" (1950) sowie "Man of the West" (1959) mit seinen von David Meuel aufgezeigten Parallelen zu Jacques Tourneurs Klassiker "Out of the Past" gemeinsam vorgestellt werden. Zusammengefasst werden aber auch John Fords "The Searchers" (1956) und "Cheyenne Autumn" (1964), mit denen der Altmeister den Mythos vom Westen, an dessen Aufbau er wesentlich beteiligt war, selbst revidierte und demontierte.
Einerseits wirft man so durch die Lektüre einen neuen Blick auf Klassiker, andererseits wird man aber auch eingeladen, zahlreiche, nahezu vergessene Perlen wie William Castles "Cave of the Outlaws" (1951), Joseph Newmans "The Outcast of Poker Flat" (1952), der in Beziehung zu Quentin Tarantinos "The Hateful Eight" gesetzt wird, oder Joseph H. Lewis´ "Terror in a Texas Town" (1958) zu entdecken.
Keine detailreichen akademischen Analysen bietet Zion, begeistert aber mit seiner Sachkenntnis und seiner von sichtlicher Leidenschaft für die Filme geprägten, sehr flüssigen Schreibweise. Ein Film- und Personenregister sowie ein Sachregister, dessen Sinnhaftigkeit mit Schlagwörtern wie "Chicago", "Mount Rainier", "Cowboy", "Malerei" "Landschaft", oder "Rinder" allerdings zweifelhaft scheint, runden dieses famose Filmbuch ab.
Einziges kleines Manko von "Auf dem Pfad der Verlorenen. Der Noir Western, 1943 - 1971", bei dem die Darstellung auch durch zahlreiche teilweise zwar etwas kleine, aber immer gestochen scharfe Filmstills aufgelockert und unterstützt wird, ist das Fehlen von Credits zu den einzelnen Filmen. Doch diese können heutzutage natürlich auch problemlos mittels Internetquellen wie IDMB oder Wikipedia ausfindig gemacht werden.
Robert Zion, Auf dem Pfad der Verlorenen. Der Noir Western, 1943 – 1971, Werkausgabe Bd. 4., Books on Demand, Norderstedt 2024, 296 S., € 39,99, ISBN 978-3-7583-5101-3
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