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AutorenbildWalter Gasperi

Filmbuch: Claire Denis – Körper, Intimität und Fremdheit


Im 18. Band der im Psychosozial-Verlag erscheinenden Reihe "Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie" wird in dreizehn Essays das Werk der französischen Regisseurin Claire Denis differenziert analysiert.


Auf einen einleitenden Artikel, in dem Mitherausgeber Gerhard Schneider die psychoanalytische Position in den Filmen von Claire Denis untersucht, folgt ein Beitrag von Marcus Stiglegger, der Merkmale herausarbeitet, die sich durch das Werk der 1946 geborenen Französin ziehen.


Als zentral sieht der Filmwissenschaftler dabei neben dem distanzierten, nicht wertenden Blick das Gefühl der Fremdheit, der Unbehaustheit und Nichtzugehörigkeit an. Dazu kommt die Erkundung der Körper, bei der die Filme ebenso wie bei den wiederkehrenden Essensszenen durch Bild- und Tonsprache eine verstörende Haptik entwickeln.


Auf diesen Überblick folgen die Analysen von zehn Filmen von Denis. Sabine Wollnik reflektiert in ihrem Essay zum Spielfilmdebüt "Chocolat" (1988) auch die Veränderung ihres mehrfach überarbeiteten Textes unter dem Einfluss der Corona-Pandemie und der Black Lives Matter-Bewegung. Ausgehend vom Titel "Chocolat" blickt die Autorin auf den kolonialen Kontext, arbeitet den visuellen Stil ebenso heraus wie die Grenzübertretungen der Kolonialherren und -frauen, die in einer Täter-Opfer-Umkehr vielfach zu Schamgefühlen bei den Afrikaner:innen führen. Wollnik zeigt aber auch auf, wie der Film auch beim Publikum eine Konfrontation mit der eigenen Geschichte und Gefühle wie Schuld und Scham hervorrufen kann.


Andreas Hamburger untersucht in seinem Beitrag zum Fremdenlegionsfilm "Beau Travail" (1999) Denis´ Umgang mit Herman Melvilles Langerzählung "Billy Budd" und arbeitet die für Denis typische elliptische Erzählweise heraus. Detailliert beschreibt der Mitherausgeber den Inhalt des Films, um dann den Ursachen für den Widerspruch zwischen der Schönheit der Bilder und dem Widerwillen gegenüber einer zweiten Sichtung nachzuspüren. Dabei werden auch die Parallelen zu Jean-Luc Godards "Le petit soldat" herausgearbeitet, um in einer abschließenden psychoanalytischen Interpretation zu zeigen, dass der Film nicht auf Handlung abzielt, sondern durch einen assoziativen Bilderfluss in Trance versetzen will.


Andreas Jacke wiederum fokussiert bei seinem Essay zum Erotikthriller "Trouble Every Day" (2001) zunächst auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Jacques Rivettes "Out One: Spectre", bei dem Denis Regieassistentin war. Als Gegenpol zu Rivettes "Noli me tangere!" sieht Jacke dabei das Körperkino von Denis, in dem die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Berührung zentral ist und der Geist-Körper-Gegensatz aufgehoben wird. Gleichzeitig ist der zärtliche Kontakt beim Kuss wiederum bedroht, schlägt die Nähe doch beim Sex in extreme Gewalt um. Im Kannibalismus des Films entdeckt der Autor dabei auch Parallelen zur Passion Christi und zum christlichen Abendmahl.


Wie Jacke in seinem Beitrag zu "Trouble Every Day" so arbeitet auch Lutz Goetzmann in seinem Essay zu "L´intrus" (2004) den Einfluss des Philosophen Jean-Luc Nancy heraus. Auch hier weist der Autor auf die zentrale Rolle des Berührens und Abtastens des Körpers hin und stellt Querverbindungen von Migration und Herztransplantation als Akte der Grenzüberschreitung und Transgression, die immer mit Gewalt verbunden sind, her.


In "35 Rum" (2008) sieht Timo Storck dagegen einen Film über ein Spätstadium des Ödipuskonflikts. In plastischer Beschreibung von Filmszenen deckt Storck auf, wie im Zentrum dieser Vater-Tochter-Geschichte im doppelten Sinne "Weichen" stehen, wenn mit dem Zurückweichen des Vaters und seiner Lösung von der Tochter die Weichen für die Zukunft der Tochter gestellt werden.


Das für Denis´ Werk zentrale Thema des Kolonialismus bestimmt "White Material" (2009). Andreas Jacke zeigt hier auf, wie der männlich konnotierten Gewalt der rebellierenden Afrikaner:innen ebenso wie der der kolonialen Machthaber mit der von Isabelle Huppert gespielten weißen Plantagenbesitzerin, die sich für ihre Plantage und die indigenen Arbeiter:innen einsetzt, eine feministische, politisch, aber problematische Position gegenübergestellt wird.


Während Thimo Storck anschaulich die Desorientierung vermittelt, die "Les Salauds" (2013) mit seiner fragmentierten und zerrissenen Erzählweise, seinen Wiederholungen und verschwimmenden Figuren auslöst, bieten Marie-Luise Waldhausen und Christoph E. Walker Einblick in ihre eigene Rezeptionserfahrung von "Meine schöne innere Sonne – Isabelle und ihre Liebhaber" (2017). Durchaus kritisch blicken die AutorInnen dabei auf die von Juliette Binoche gespielte Hauptfigur, die im ersten Moment zwar Selbstbewusstsein ausstrahlt, rasch aber ihre Unsicherheit dahinter sichtbar macht, und wie gefangen in einer Wiederholungsschleife aufgrund ihrer wenig selbstreflektierten Haltung immer wieder neue Enttäuschungen erlebt.


Lioba Schlösser fokussiert beim Science-Fiction-Film "High Life" (2018) auf dem Motiv des Recyclings, das den Film auf allen Ebenen bestimmt, sich durch den ganzen Film zieht und so das Zyklusmotiv, das im Mittelpunkt des Plots steht, unterstützt. Das Chaos der Gefühle einer Frau, die zwischen einem Mann, der Sicherheit bietet, und der leidenschaftlichen Erotik eines anderen zerrissen ist, arbeitet dagegen Andreas Jacke in seinem Essay zu "Avec amour et acharnement" ("Mit Liebe und Entschlossenheit", 2022) heraus und entdeckt Parallelen zu Thomas Hardys "Tess" und Goethes "Wahlverwandtschaften".


Abschließend lädt Dietrich Stern zu einem Hör-Spaziergang durch die Musik in einigen Filmen von Denis ein. Der Autor entdeckt dabei eine Entwicklung von der Bewegtheit des Jazz in Denis´ Debüt "Chocolat" zur Statik der Musik von Tindersticks in den späteren Filmen. Im Kontrast zu dieser Statik stehen aber Momente der Hoffnung und des Aufbruchs für die Soul- und Jazz-Stücke sorgen, die Entwicklungen in der Handlung einleiten.


Die auf hohem Niveau stehenden, sehr fundierten Beiträge sind immer nah an den Filmen, bieten mit ihren präzisen und differenzierten Analysen einen tiefschürfenden Einblick in das Schaffen von Claire Denis, arbeiten aber auch immer wieder heute virulente Fragen und Themen ein: Im deutschsprachigen Raum derzeit wohl das Basiswerk zur 77-jährigen Französin.

Andreas Hamburger, Gerhard Schneider, Peter Bär, Timo Storck, Karin Nitzschmann (Hg.), Claire Denis. Körper, Intimität und Fremdheit. Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie, Band 18. Psychosozial-Verlag, Gießen 2022. 154 S., ISBN 978-3-8379-3172-3, € 34,90



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