Horst Peter Koll stellt auf 380 Seiten rund 450 Kinder- und Jugendfilme vor und legt damit ein großartiges Nachschlagewerk und unverzichtbares Hilfsmittel für Eltern ebenso wie für Kurator:innen von Kinder- und Jugendfilmen vor: Ein Buch, das nicht nur durch seine leidenschaftlichen Filmbeschreibungen, sondern auch durch die sorgfältige Machart und die vorzügliche Bebilderung begeistert.
Wie liebevoll dieses im Schüren Verlag erschienene Nachschlagewerk gestaltet ist, macht schon die Wahl des Covers deutlich: Das Filmstill aus Tomm Moores und Nora Twomneys Animationsfilm "Das Geheimnis von Kells" (2009) mit zwei aus einem grünen Blätterwald blickenden Kinderaugen ist nicht nur ein echter Eyecatcher, sondern der Kinderblick korrespondiert auch mit der Neugierde, die der Autor mit seinem Buch für Kinder- und Jugendfilme wecken will.
Der fehlenden Beachtung, die der Kinder- und Jugendfilm hierzulande vielfach erfährt, will Horst Peter Koll mit diesem Buch entgegenwirken. Auslöser dafür war zwar die wöchentliche Beilagen-Seite "Filme für Kids" im Kölner Stadt-Anzeiger, die während des Corona-Lockdowns Anregungen für Eltern lieferte, doch auch abseits solcher Krisenzeiten soll "Drachen reiten, Freunde finden, älter werden" nun eine schier unerschöpfliche Quelle für herausragende Kinder- und Jugendfilme bieten.
Offen gibt der Autor dabei zu, dass es sich bei den Filmbeschreibungen nicht um Kritiken, sondern um zumeist leidenschaftliche Schwärmereien handelt, aber gerade dadurch weckt das Buch Lust auf diese äußerst bunte Auswahl an Filmen.
Hinweise auf die gesetzliche FSK-Altersfreigabe und eine pädagogische Altersempfehlung des Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrums (KJF) erleichtern eine zielgruppenorientierte Filmauswahl ebenso wie ein Register, in dem die Filme nach Altersempfehlung geordnet sind. – Auffallend ist dabei freilich, dass der Großteil der Filme für Acht- bis Zwölfjährige geeignet ist, die Anzahl der Filme für Vier- und Fünfjährige dagegen ebenso gering ist wie die für 15- und 16-Jährige.
Als ideal sieht Koll zwar an, die Filme im Kino zu sichten, doch eines der Auswahlkriterien war die Verfügbarkeit bei Streamingdiensten. Wenn so bei jedem Film neben den wichtigsten Credits (Produktionsland und -jahr, Regie, Drehbuch / Vorlage, Darsteller:innen und Länge) die jeweiligen Streamingplattformen angegeben werden, zeigt sich, dass sich das Buch eher für die private Heimkinoauswahl als für öffentliche Vorführungen eignet. Viele der vorgestellten Filme dürften aktuell nämlich nicht (mehr) im Kinoverleih erhältlich sein, aber auch die Verfügbarkeit bei den Streamingdiensten kann sich selbstverständlich ändern.
Auf einen einleitenden Essay des Jugendbuchautors und Filmproduzenten Andreas Steinhöfel, der sehr persönlich über die prägende Wirkung seiner ersten Filmerfahrung als Fünfjähriger mit "Das doppelte Lottchen" erzählt, folgen die in 18 thematische Kapitel gegliederten Filmvorstellungen.
Der Bogen spannt sich vom eher kurzen Kapitel "Anfangen!", in dem Filme für Vier- und Fünfjährige wie "Mama Muh und die Krähe" oder "Lauras Stern" vorgestellt werden, bis zum schwergewichtigen, aber ebenfalls kurzen Abschnitt "Krieg und Flucht", in dem sich Beiträge unter anderem zu Caroline Links "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" und Mirijam Ungers Christine Nöstlinger-Verfilmung "Maikäfer, flieg!" finden.
Durchgängig ist das Aufbauprinzip, bei dem zumeist auf einer ganzen Seite ein Film größer vorgestellt wird, während auf der gegenüberliegenden Seite kurz auf zwei thematisch ähnliche Filme hingewiesen wird. Einzelne Filmvorstellungen nehmen aber auch zwei Seiten ein, Hayao Miyazakis "Das wandelnde Schloss" sogar drei Seiten.
Die schon angesprochene leidenschaftliche und mitreißende Darstellung Kolls steigert dabei ebenso den Lesegenuss wie die durchgängig hervorragende Bebilderung. Während die Gliederung in Kapitel die Suche nach Filmen zu speziellen Themen erleichtert, ermöglicht ein alphabetisches Lexikon am Ende ein schnelles Nachschlagen.
Begeisternd ist vor allem die Fülle und Vielfalt der Auswahl. Realfilme finden sich hier ebenso wie Animationsfilme, Kurzfilme wie beispielsweise die Pixar-Produktionen "Bao" und "Lou" (S. 181) werden ebenso vorgestellt wie Dokumentarfilme wie Julia Huffmans "Wölfe" (S. 173) oder im Kapitel "Wirklich!" unter anderem Victor Kossakovskys "Gunda" (S. 282f.) oder Marie Amiguets und Vincent Muniers "Der Schneeleopard" (S. 284).
Wenig überraschend nimmt den größten Raum des Buches mit 36 Seiten das Kapitel "Freundlich!" ein, aber mit "Fantastisch!" kommen auch "Harry Potter" (S. 168f.), Filme von Hayao Miyazaki (S. 174 – 179) und "Bibi Blocksberg" (S. 188f) nicht zu kurz. Das Kapitel "Reisen!" entführt in die Ferne, während in "Fremd!" Filme über Migrationserfahrungen im Zentrum stehen. Märchenfilmen wird ebenso Raum geboten wie unter dem Titel "Tröstlich!" Filmen über Verlust und Trauer wie "Mein Leben als Zucchini" (S. 308) und auch Weihnachts- und Coming-of-Age-Filme dürfen selbstverständlich nicht fehlen.
Über unterschiedlichste Genres spannt sich so auch der Bogen der Filme. Da stehen nicht nur zahlreiche Literaturverfilmungen neben genuinen Filmstoffen, sondern neben Roadmovies finden sich Krimis ebenso wie Abenteuer- und Geistergeschichten. Immer beschreibt Koll dabei nicht nur kurz den Inhalt der Filme, sondern stellt auch knapp die grundliegenden menschlichen Themen vor, die jeweils, verpackt in Unterhaltung, kind- oder jugendgemäß behandelt werden.
Auffallend ist nicht nur, dass neben echten Kinderfilmen auch Arthouse-Produktionen wie Nadine Labakis erschütternde libanesische Kindheitsgeschichte "Capernaum – Stadt der Hoffnung" (S. 147), Deniz Gamze Ergüvens türkisches Coming-of-Age- und Emanzipationsdrama "Mustang" (S. 147) oder Lea Mysius´ "Ava" (S. 241) kurz vorgestellt werden, sondern auch dass der Fokus auf aktuellen Produktionen liegt. Vor der Jahrtausendwende entstandene Filme finden sich dagegen kaum.
Unbestreitbar ist, dass es unmöglich ist, alle großartigen Kinder- und Jugendfilme in so einem Buch aufzunehmen, doch etwas schade ist doch, wie durch diese Fokussierung auf Filme, die bei Streamingdiensten - derzeit! - verfügbar sind, die Filmgeschichte fast gänzlich ausgeklammert wird.
Man muss sich ja nicht am deutschen Kinderfilmkanon orientieren, aber dass beispielsweise klassische Disneyproduktionen wie "Dschungelbuch" oder "Schneewittchen", die Erstverfilmung von "Emil und die Detektive", der Klassiker "The Wizard of Oz", große amerikanische Komödien wie Chaplins "The Kid" oder ein "Laurel & Hardy"-Film fehlen, verwundert schon.
Die Aufnahme solcher Titel oder auch des klassischen tschechoslowakischen Märchenfilms "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" von Václav Vorlícek, der andererseits mit anderen Filmen durchaus vertreten ist, sowie Vittorio de Sicas "Schuhputzer" als Vorbild für den vorgestellten "Capernaum – Stadt der Hoffnung" oder auch des einen oder anderen iranischen Kinderfilms, und zumindest ein Hinweis auf David Leans "Oliver Twist" bei der Kurzvorstellung von Polanskis Verfilmung des klassischen Romans von Charles Dickens (S. 159) hätten nicht nur die Vielfalt, sondern auch den Wert dieses, trotz dieser Abstriche aber immer noch wichtigen, beeindruckenden und sehr nützlichen Handbuchs nicht unwesentlich vergrößert.
Nicht übersehen sollte man nämlich, dass mit dieser Fokussierung auf ganz oder relativ aktuelle Produktionen auch viele Filme vorgestellt werden, die in wenigen Jahren vielleicht schon veraltet und vergessen sind, während die Klassiker doch allein schon durch ihr Alter ihre zeitlose Bedeutung längst bewiesen haben.
Koll, Horst Peter, Drachen reiten, Freunde finden, älter werden. Entdeckungen für junge Filmfans, Schüren Verlag, Marburg 2023, 384 S., € 34, ISBN 978-3-7410-0444-5
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