Thomas Koebner untersucht in seinem im Schüren Verlag erschienenen Buch anhand von 42 kurzen Filmbeschreibungen die unterschiedlichen Rollen, die Erinnerungen im Film spielen.
Ausgehend von drei Beispielen literarischer Erinnerungen bei Marcel Proust, Vladimir Nabokov und Annie Ernaux richtet Thomas Koebner den Blick auf die Arbeit mit Erinnerung im Film. Gegliedert in 13 Kapitel stellt der Filmwissenschaftler dabei 42 Filme vor.
Das umfangreichste Kapitel behandelt anhand von acht Filmen den Umgang mit einem Gedächtnisverlust. Der Bogen spannt sich hier von Christopher Nolans rückwärts erzähltem "Memento" (2000), in dem der Protagonist nach Gedächtnisverlust mittels Polaroidfotos die vergangenen Ereignisse zu rekonstruieren versucht, bis zu Aki Kaurismäkis "Der Mann ohne Vergangenheit" (2002), in dem der Verlust der Erinnerung die Chance auf den Beginn eines neuen Lebens eröffnet.
Stark vertreten sind in diesem Kapitel vor allem Thriller. So wird Henri Colpis wenig bekannter "Une aussi longue absence" ("Noch nach Jahr und Tag", 1961), in dem eine Frau in einem gedächtnislosen Kriegsheimkehrer ihren Mann erkennen will, ebenso vorgestellt wie Edward Dmytryks "Mirage – Die 27. Etage" (1965) oder Jonathan Demmes "The Manchurian Candidate" (2004). Mit "Trap for Cinderella" ("Wrong Identity – In der Haut einer Möderin", 2013) und "Before I Go to Sleep" ("Ich. Darf. Nicht. Schlafen", 2014) fehlen auch moderne Thriller nicht, in denen die Protagonistinnen mittels eines perfiden Plans manipuliert werden.
Dem Vergessen steht die unzerstörbare Erinnerung gegenüber, die anhand von Robert Enricos "Le vieux fusil" ("Das alte Gewehr", 1975) und Claude Millers "Un secret" ("Ein Geheimnis", 2007) vorgestellt wird. In beiden Filmen geht es dabei um die traumatische Erinnerung an die Zerstörung von Familien während der NS-Zeit.
Sieben Filme widmen sich dem Thema der verlorenen Liebe. Der verbalen Evokation der Liebe von Gestern in Wim Wenders´ Meisterwerk "Paris, Texas" (1984) widmet sich hier Koebner ebenso wie der Rückblendenstruktur in Anthony Minghellas "The English Patient" (1996) oder der Erinnerung an den US-Rassismus gegen die Japaner nach dem Überfall auf Pearl Harbour in "Snow Falling on Cedars" (1999). Mit Michel Gondrys "Eternal Sunshine of the Spotless Mind" (2004) kommt aber auch der Aspekt der Möglichkeit der Löschung von Erinnerungen und deren Folgen ins Spiel.
Breiten Raum nehmen mit sechs Filmen auch traumatische Erinnerungen an die NS-Lager ein. Koebners Auswahl umfasst hier Sidney Lumets "The Pawnbroker" (1964) ebenso wie Alan J. Pakulas "Sophie´s Choice" (1982), in denen die Erinnerung schließlich zum Zusammenbruch der für immer gezeichneten Opfer führt, bis zu Atom Egoyans "Remember" (2015), in dem ein SS-Offizier seine Erinnerung völlig verdrängt hat. Aber auch "Il portiere di notte" ("Der Nachtportier", 1974), in dem Liliana Cavani zeigt, wie die Erfahrung des Lagers nicht nur überlebende Opfer, sondern auch Täter nach dem Krieg nicht loslässt, fehlt hier nicht.
Der Frage des Wahrheitsgehalts von Erinnerungen wird anhand von Kathryn Bigelows "Strange Days" (1995) und Akira Kurosawas "Rashomon" (1950) nachgespürt und auch Alain Resnais´ "L´année dernière à Marienbad" ("Letztes Jahr in Marienbad", 1961) spielt mit der Ungewissheit des Wahrheitsgehalts von Erinnerungen.
Verschmelzung von Gegenwart und Erinnerung bestimmt dagegen Resnais´ "Hiroshima, mon amour" (1959), während Ingmar Bergman in "Wilde Erdbeeren" (1957) zeigt, wie Erinnerungen an demütigende Erfahrungen ein ganzes Leben prägen können.
Verschränkung von Zeitebenen in Carlos Sauras "Cousine Angelica" (1974) oder Theo Angelopoulos´ "Der Blick des Odysseus", 1995) machen dagegen einen historischen Wandel bewusst, während Filme wie Woody Allens "Radio Days" (1987) oder Giuseppe Tornatores "Cinema Paradiso" (1988) nostalgisch an vergangene Zeiten, aber auch an das Ende der Kindheit erinnern.
Prägende Erinnerungen an ein Trauma werden schließlich anhand von Alfred Hitchcocks "Rebecca" (1940), Orson Welles´ "Citizen Kane" (1941), Federico Fellinis "Julia und die Geister" (1965) und Alejandro Amenabars Thriller "Regression" (2015) behandelt, während Fellini sich in "Amarcord" (1973) wehmütig an eine vergangene Zeit erinnert und Sidney Pollacks "Out of Africa" ("Jenseits von Afrika", 1985) von der Angst durchzogen ist, dass mit dem Tod alles dem Vergessen anheimfällt.
Mit seiner breiten und vielfältigen Auswahl an Filmen sowie den anschaulichen und präzisen Beschreibungen macht dieser mit 180 Seiten recht schmale Band, der durch eine kleine Bibliographie und ein Filmregister abgerundet wird, nicht nur Lust auf ein Wiedersehen der vorgestellten Filme, sondern kann in Zukunft auch beste Dienste bei der Kuratierung einer Filmreihe zum Thema "Erinnerungen im Film" leisten.
Thomas Koebner, Erinnerungen im Film, Ein Versuch, Schüren Verlag, Marburg 2022, 180 S., € 20, ISBN 978-3-7410-0413-1
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