Mit "The Piano" etablierte sich die Neuseeländerin Jane Campion Anfang der 1990er Jahre als herausragende Filmemacherin. Erstmals liegt nun mit der im Schüren Verlag erschienenen Monographie der Kulturwissenschaftlerin Marisa Buovolo ein deutschsprachiges Buch vor, das detaillierten und vielschichtigen Einblick in Merkmale der Filme der Siegerin der Goldenen Palme ("The Piano") und zweifachen Oscar-Preisträgerin ("The Power of the Dog") bietet.
Marisa Buovolo analysiert nicht chronologisch Film für Film, sondern arbeitet vielmehr filmübergreifend Besonderheiten und wiederkehrende Motive im Schaffen der am 24. März 1954 in Wellington, Neuseeland geborenen Jane Campion heraus. Eindrücklich zeigt die Autorin dabei zunächst auf, wie "The Piano" heutige Filme wie Céline Sciammas "Portrait d´une jeune fille en feu" oder Leyla Bouzids "Une historie d´amour et désir" beeinflusste.
Zentral ist für Buovolo dabei einerseits die taktile Inszenierung und über diese Inszenierung die Vermittlung eines Begehrens jenseits geschlechtsspezifischer Sehhierarchien und konventionalisierter Vorstellungen von Sex und Liebe.
Nach der Nachzeichnung der Entwicklung der Tochter eines Theaterregisseurs und einer Schauspielerin im Spannungsfeld von Neuseeland, Australien und England und dem Blick auf die Kurzfilme Campions widmet sich Buovolo der Position Campions im Rahmen der feministischen Filmwissenschaft.
Kontroversen um die Darstellung der Maoris und der romantisierten Darstellung der Sexualität in "The Piano" arbeitet die Kulturwissenschaftlerin ebenso ausführlich und differenziert heraus wie die Parallelen zu den Romanen Emily Brontës und die Visualität dieses Films, mit dem die Neuseeländerin 1993 als erste Frau überhaupt die Goldene Palme von Cannes gewann.
Anhand der detaillierten Beschreibung von Szenen vermittelt Buovolo eindrücklich, wie Campion mit Kostümen, Frisuren und Kameraarbeit die haptische Wahrnehmung aktiviert, Nähe zu den Figuren erzeugt und in deren Seelenlandschaft blicken lässt. Diese Bedeutung der Kostüme, die die Figuren konstituieren, wird auch in einem ausführlichen Abschnitt über die Arbeit der Kostümbildnerin Janet Patterson, mit der Campion von "The Piano" bis "Bright Star" bei allen Filmen außer beim Thriller "In the Cut" zusammenarbeitete, vermittelt.
Breiten Raum nimmt auch die Analyse der TV-Miniserie "Top of the Lake" (2013) und deren Fortsetzung "China Girl" (2016) ein. Bestechend arbeitet die Autorin dabei heraus, wie Campion – wie schon bei "In the Cut" – das Genre des Thrillers benutzt, beispielsweise Gegenbilder zu David Lynchs "Twin Peaks" schafft und verpackt in Genrekino mit patriarchaler Macht abrechnet und von alternativen Familienbildern sowie im zweiten Teil vom Recht des weiblichen Körpers auf Begehren und Autonomie erzählt.
Beeindruckend analysiert Buovolo im abschließenden Kapitel auch die Zeichnung von Männlichkeiten im Œuvre. In präziser Schilderung von Szenen stellt sie dabei immer wieder die sich durch Campions Werk ziehenden gegensätzlichen Männerfiguren einander gegenüber und blickt auf unterschiedliche Väterfiguren ebenso wie auf die Rolle des Schnurrbarts bei der Konstituierung der Männlichkeit.
Ein Detail ist dabei zwar, aber doch ein irritierendes, dass die Autorin zu "The Power of the Dog" feststellt, dass "Jane Campion die Handlung in die kargen Landschaften Neuseelands versetzt hat" (S. 168), denn nach allen (?) Quellen spielt der Film doch wie der Roman von Thomas Savage im US-Bundesstaat Montana.
Die durch vielfältige filmwissenschaftliche Literatur vorwiegend aus dem englischsprachigen Raum unterstützte Darstellung Buovolos stellt zwar Ansprüche an die Leser:innen, andererseits weckt diese zwar nicht üppig, aber treffsicher mit Filmstills bebilderte Monographie mit ihren detaillierten Schilderungen und vielfältigen Einblicken auch große Lust die Filme Campions nochmals zu sehen oder neu zu entdecken.
Buovolo, Marisa, Jane Campion & Ihre Filme, Schüren Verlag, Marburg 2024, 192 S., € 24, ISBN 978-3-7410-0451-3
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