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AutorenbildWalter Gasperi

Filmbuch: Klassiker des französischen Kinos in Einzeldarstellungen


Von den Brüdern Lumière und Georges Méliès bis zu Jacques Audiards "De rouille et d´os – Der Geschmack von Rost und Knochen" und Abdellatif Kechiches "La Vie d´Adèle – Chapitres 1 et 2 – Blau ist eine warme Farbe"– Ein Streifzug durch die französische Filmgeschichte in 36 sehr fundierten und vielschichtigen Filmanalysen.


Künstlerisch und auch kommerziell ist Frankreich unbestritten die führende Filmnation Europas. Nicht nur die Anfänge der Filmgeschichte sind untrennbar mit diesem Land verknüpft, sondern nahezu ungebrochen blüht seit über 100 Jahren die nationale Filmkultur. Ein geschlossenes Bild der Geschichte des französischen Kinos kann so eine Auswahl von 36 Filmen kaum bieten, doch einzelne Aspekte werden in den fundierten und ausführlichen, jeweils 15- bis 20-seitigen Analysen bestechend herausgearbeitet.


Der Stummfilm ist mit insgesamt drei Beiträgen etwas schwach vertreten, aber beeindruckend arbeitet Oliver Fahle heraus, dass hinter den scheinbar einfachen, dokumentarischen Filmen der Brüder Lumière eine reflektierte Inszenierung mit überlegter Wahl der Kamerapositionen und Arbeit mit dem Sichtbaren und Nichtsichtbaren steckt. Klaus Peter Walter bietet in seinem Beitrag zu "Le Voyage dans la lune" (1902) nicht nur Einblick in die Inspirationsquellen von Georges Méliès´ von den Romanen Jules Vernes bis zur amerikanischen Show "A Trip to the Moon", sondern zeigt mit detaillierter Analyse einzelner Szenen auch auf, wie dieser Film am Schnittpunkt zwischen reinem Attraktionskino und Narrationskino steht.


Sabine Schrader fokussiert dagegen bei Germaine Dulacs "La Souriante Mme Beudet" (1923) auf den feministischen und avantgardistischen Elementen dieses Kurzspielfilms. Anschaulich arbeitet die Autorin heraus, wie Dulac auf inhaltlicher Ebene eine Frau schildert, die in einer bürgerlichen Ehe eingezwängt ist, und auf formaler Ebene den Film von allen theaterhaften Zwängen befreit.


Als Prototyp des Poetischen Neorealismus wird Marcel Carnés "Le Jour se lève" (1939) vorgestellt, bei dem Kurt Hahn selbstverständlich auch die Bedeutung von Drehbuchautor Jacques Prévert und Hauptdarsteller Jean Gabin herausarbeitet. Nicht fehlen darf auch Jean Renoirs Meisterwerk "La Règle du jeu" (1939). Andreas Mahler zeichnet dabei nicht nur ausgehend von der heutigen Wertschätzung des Films die Rezeption vom Skandal bei der Premiere über Verstümmelungen bis zur Rekonstruktion nach, sondern beleuchtet auch die vielfältigen Spiegelungen von Oben und Unten, Innen und Außen und die Rolle der Kameraarbeit.


Viel Platz wird auch den zentralen Vertretern der Nouvelle Vague eingeräumt. Jochen Mecke zeigt bei seiner Analyse von Francois Truffauts "Les Quatre Cents Coups" (1959) die starken autobiographischen Akzente auf und, wie Truffaut durch Schauspieler, Arbeit mit Plansequenzen und Raum für Improvisation Authentizität erzeugt. Silke Segler-Meßner blickt dagegen zunächst auf die Entwicklung von Alain Resnais, um sich dann der Verschränkung von Hiroshima und Nevers und von Vergangenheit und Gegenwart in "Hiroshima mon amour" (1959) zu widmen.


Wolfgang Lasinger zeigt an Jean-Luc Godards "A bout de souffle" (1959) das für die Nouvelle Vague Typische auf vom Mix aus Genrebezug und Autorenschaft über die Unterwanderung von dramaturgischen Konventionen bis zur starken Intertextualität mit Bezugnahme auf andere Filme, Literatur und Kunst. Von Claude Chabrol wurde "La Femme infidèle" (1969) ausgewählt, den Gesine Hindemith zum Anlass nimmt, um auf Chabrols Karriere und ambivalente Wertschätzung durch die Kritik zu blicken. Mit detailgenauer Filmbeschreibung vermittelt die Autorin aber auch ein präzises Bild des vorgestellten Films als Melodram mit Thrillermomenten.


Aber nicht nur Klassiker des Autorenfilms wie z.B. auch Jacques Tatis "Les Vacances de Monsieur Hulot" (1953) , Louis Malles "Lacombe Lucien" (1974), den Verena Richter zum Anlass nimmt, um die Darstellung der deutschen Okkupation im französischen Film zu beleuchten, oder Jacques Rivettes "Céline et Julie vont en bateau" (1974) werden vorgestellt, sondern auch erfolgreiche Unterhaltungsfilme.


Sascha Keilholz widmet sich so dem Einfluss der Bond-Filme auf Philippe de Brocas "L´Homme de Rio" (1964) und der Brechung dieser Erfolgsserie durch den ironischen Blick auf exotische Schauplätze und gesellschaftskritische Akzente. Der Autor arbeitet aber auch die Nähe zum Comic "Tintin" heraus und Belmondos Lust an Action-Szenen, der er hier mit der Verwendung aller Verkehrsmittel frönen kann.


Susanne Dürr wiederum zeigt die komödiantischen Qualitäten des Publikumserfolgs "La Grande vadrouille" (1966) auf, während Stephanie Schwerter bei ihrer Analyse von "Bienvenue chez les Ch´tis" (2008) vor allem auf den Sprachwitz und die Schwierigkeit der Synchronisation dieses Dialekts fokussiert.


Gregor Schuhen stellt "La Haine" (1995) als Prototypen des Cinéma de banlieue vor und arbeitet dabei die filmsprachliche Brillanz, durch die dieser Film zu einer neuartigen Form des kämpferischen und wütenden Autorenkinos wird, ebenso heraus wie Parallelen zu Vorbildern von Truffauts "Les Quatre Cents Coups" bis zu Scorseses "Taxi Driver". Auf Globalisierung und Identitätsfindung als zentrale Themen blickt dagegen Mitherausgeber Ralf Junkerjürgen in seinem Beitrag zu Cédric Klapischs "L´Auberge espagnole" (2002).


Auch zentrale Vertreter des aktuellen französischen Kinos fehlen mit Analysen von Francois Ozons "5 x 2" (2004), Olivier Assayas´ "Après mai – Die wilde Zeit" (2012), Jaques Audiards "De rouille et d´os – Der Geschmack von Rost und Knochen" (2012) und Abdellatif Kechiches "La vie d´Adèle – Chapitres 1 et 2 – Blau ist eine warme Farbe" (2013) nicht, doch wie die Herausgeber selbst im Vorwort anmerken, war es unmöglich alle wichtigen Filme und Regisseure unterzubringen.


So fehlen beispielsweise Abel Gance, Robert Bresson, Jean Cocteau, Henri Georges-Clouzot, Jacques Becker, Georges Franju ebenso wie Leos Carax, Bruno Dumont oder Arnaud Desplechin. – Zu vielfältig und reich ist die französische Filmgeschichte, um diese in einem Buch umfassend zu würdigen. Trotz des beachtlichen Umfangs von 650 Seiten fügen sich so die Beiträge nicht wirklich zu einem runden und geschlossenen Überblick über die französische Filmgeschichte, sondern bleiben eben einzelne Filmvorstellungen.


Das ändert aber nichts daran, dass die einzelnen Beiträge in ihrer Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit beeindrucken. In vorbildlicher Weise verbindet sich hier profunde Wissenschaftlichkeit mit guter Lesbarkeit, sodass jeder Beitrag Lust weckt die vorgestellten Filme auf Basis der neu gewonnenen Erkenntnisse neu oder zum wiederholten Mal zu entdecken.


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