Thomas Koebner arbeitet auf kompakten 130 Seiten die unterschiedlichen Rollen von Masken, Puppen und einsamen Kindern im Spielfilm heraus: Fundiert und sehr informativ, dennoch leicht lesbar.
Nachdem der Filmwissenschaftler Thomas Koebner unter anderem schon Bücher zum "Träumen im Film" und zu "Erinnerungen im Film" publiziert hat, widmet er sich nun "Masken, Puppen und einsamen Kindern". Wenn der Autor dabei vielfach auf eigene ältere Aufsätze und Bücher zurückgreift, diese verkürzt oder überarbeitet einarbeitet, dann zeigt sich ganz nebenbei und uneitel auch, wie viel der 82-Jährige schon publiziert hat.
Gleichzeitig wird in der Fülle der Filmbeispiele, deren Bandbreite sich von Arthouse-Kino bis zu Genrefilmen und vom Stummfilm bis zu aktuellen Kinofilmen spannt, auch Koebners umfassende und fundierte Kenntnis der Filmgeschichte sichtbar: In jedem Bereich scheint er zu Hause zu sein.
Thematisch gegliedert arbeitet er im Abschnitt "Masken" anhand vieler Beispiele die vielfältigen Spielarten der Maskierung heraus. Die Rolle verunstalteter Körper ("Der Glöckner von Notre Dame", "Frankenstein", "Das Phantom der Oper" "Der Schrecken vom Amazonas", "Shape of Water"), die teilweise mit einem verdorbenen Charakter korrespondieren, aber auch im Kontrast zum inneren Wesen stehen kann, wird ebenso analysiert wie das Doppel-Ich in "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" und die Täuschung durch die Maske in Coppolas "Bram Stoker´s Dracula" (1992) oder Murnaus "Nosferatu" (1922).
Aber auch die wechselnde Maskierung von Verbrechern wie "Dr. Mabuse" (1922ff.) oder "Fantomas" (1964ff.) bis hin zu Walter Hills "Johnny Handsome" (1989) arbeitet Koebner ebenso detailreich heraus wie die Maskierung als Mittel, um unerkannt in geschlossene Gruppen einzudringen ("Eyes Wide Shut", 1999) oder um das eigene Ich zu verbergen und anonym Morde zu begehen ("Halloween", 1978ff.; "Scream", 1996ff.). Dem gegenüber stehen wiederum die maskierten Retter von Zorro bis Batman, die unerkannt das Verbrechen bekämpfen wollen.
Ausführlich widmet sich Koebner auch Geschlechterrollen. Beeindruckend spannt er dabei den Bogen von der deutschen Komödie "Charley´s Tante", in der der verkleidete Mann das Zerrbild einer hysterischen Frau spielt, über Sydney Pollacks "Tootsie" (1982), in der sich Dustin Hoffman, indem er in die Rolle einer Frau schlüpft, sich die Welt der Frauen erschließt, bis zur Hosenrolle in "Shakespeare in Love" (1999) und Marlene Dietrichs Oszillieren zwischen den Geschlechtern in "Marokko" (1930).
Sukzessive tiefer dringt Koebner hier vor, wenn am Ende dieses Abschnitts mit Hector Babencos "Kiss of the Spider Women" (1985), Neil Jordans "The Crying Game" (1992) und David Cronenbergs "M. Butterfly" (1993) Männer stehen, die so sehr Frauen sein möchten und sich in deren Rolle versetzen, sodass das männliche Gegenüber gar nicht mehr ihre wahre geschlechtliche Identität erkennt.
Beeindruckend ist dabei nicht nur die Fülle der Filmbeispiele, sondern vor allem, dass das Buch trotz der Dichte der Darstellung immer leicht lesbar bleibt. Im Gegensatz zur thematischen Gliederung bei den "Masken" strukturieren den Abschnitt über "Puppen" einzelne Filme.
Ausgehend von E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" (1816), in der sich ein Mann in eine Puppe verliebt, die er für eine echte Frau hält, analysiert Koebner mit Fokus auf der Rolle der Puppe und dem Verhältnis der Menschen zur Puppe die Flucht in einen Traum in Jean Renoirs von Hans-Christian Andersens Märchen inspiriertem "La petite marchande d´allumettes" (1928) ebenso wie die langsame Entwicklung von Gefühlen des jungen Autisten in Craig Gillespies "Lars and the Real Girl" (2007) durch den Kontakt mit einer Sexpuppe oder das Verhältnis von Puppenspieler und Puppe im Spike Jonzes surrealem "Being John Malkovich" (1999).
Aber auch Schizophrenie wird am Beispiel der Episode "The Ventriloquist´s Dummy" des Omnibus-Films "Dream without End" (1945) beleuchtet und natürlich die Horror-Puppen in "Child´s Play" (1988), der "Annabelle"-Reihe (2016) und "The Boy" (2016). Die Androiden in Ridley Scotts "Blade Runner" (1982) und das Androiden-Kind in "A.I. – Artificial Intelligence" (2001) veranlassen Koebner zu Gedanken über das Verhältnis von Mensch und Puppe und der Menschwerdung des künstlichen Wesens, während in "Il Casanova di Federico Fellini" (1976) einerseits der Protagonist sich gerade durch eine Beziehung zu einer Puppe disqualifiziere und seine Selbstsucht endgültig offenbare, andererseits Fellini aber auch von der Erstarrung des Menschen zur fremdbestimmten Puppe erzähle.
Aus dem Rahmen fällt hier dann doch das Kapitel über einsame Kinder, das wieder nach thematischen Kriterien gegliedert ist. Im Gegensatz zu den anderen beiden Abschnitten sind diese Filme doch deutlich realistischer verankert und von Sozialkritik durchdrungen. Nach einem einleitenden Abschnitt über Kinder als Schauspieler:innen werden schwierige Kindheiten von Truffauts "Les quatre cent coups" (1959) über Ken Loachs "Kes" (1969) und Jean-Pierre und Luc Dardennes "Le gamin au velo" (2011) bis hin zu den Slumkindern in Mira Nairs "Salaam Bombay" (1988) und Nadine Labakis "Capharnaum" (2018) vorgestellt.
Zu diesem Blick auf soziale Vernachlässigung kommt der Verlust der Eltern durch Krieg in Andrej Tarkowskis "Iwans Kindheit" (1962), René Clements "Jeux interdits" (1952) und Steven Spielbergs "Empire of the Sun" (1987). Dieser realistischen Schilderung bedrückender kindlicher Lebenssituationen stellt Koebner mit Guillermo del Toros "El Laberinto del Fauno" (2006) die Perspektive der kindlichen Phantasie gegenüber.
So informativ und spannend aber auch dieser Abschnitt über diese einsamen Kinder ist – er passt nicht wirklich zu den beiden anderen Abschnitten über Masken und Puppen, wirkt eher zwanghaft angefügt. – Gering wiegt aber dieser Einwand, angesichts der Fülle der bestechenden Filmbeschreibungen und Querverbindungen, die Koebner herstellt.
So bietet "Masken, Puppen und einsame Kinder" mit seinem flüssigen Stil nicht nur spannende Lektüre, sondern sollte auch vielfältige Anregungen bei einer allfälligen Kuratierung einer Filmreihe zu diesen Themen liefern.
Thomas Koebner, Masken, Puppen und einsame Kinder, Schüren Verlag, Marburg 2023, 132 S., € 18, ISBN 978-3-7410-0431-5
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