Das achte Sonderheft der Filmzeitschrift "35mm – Das Retro-Filmmagazin" widmet sich ganz dem Melodram. Auf 50 Seiten werden kurz und bündig 23 markante Filme des Genres vorgestellt. Nicht nur Klassiker finden sich in der Auswahl, sondern auch wenig bekannte Werke können entdeckt werden.
Im Editorial spürt Robert Zion als Chefredakteur der Sonderausgaben von "35mm – Das Retro-Filmmagazin" der Essenz des Melodramatischen nach. Prägnant legt er anhand der Auswahl der vorgestellten Filme dar, dass dieses Genre sich über alle Kontinente, Gesellschaftsmodelle und kulturellen Prägungen spannt und dass das wiederkehrende Thema ist, dass große Gefühle zerbrechen und sich zwei Menschen tragisch verpassen.
Chronologisch werden auf den folgenden 46 Seiten von rund einem Dutzend Autoren (ausschließlich Männer!) 23 markante Filme des Genres auf jeweils zwei Seiten vorgestellt. Der Bogen der Filmbeschreibungen, bei denen stets eine Bildseite einer Textseite gegenübersteht, spannt sich von Lois Webers 1916 gedrehtem Stummfilm "Shoes" bis zu Konrad Wolfs "Der geteilte Himmel" aus dem Jahr 1963.
Der Großteil der vorgestellten Filme stammt zwar aus den USA, aber mit der Berücksichtigung auch anderer Filmnationen von Deutschland über Japan und Italien bis zur Sowjetunion und Ägypten wird die Universalität des Genres sichtbar. Indem die Autoren in ihren Texten ganz unterschiedliche Akzente setzen, werden immer wieder für dieses Genre typische Plots und Konstellationen herausgearbeitet.
Auf kanonische Klassiker wie "Gone With the Wind" oder "Casablanca" wurde verzichtet, klassische Meister des Melodrams wie Frank Borzage, John M. Stahl und Vincente Minnelli sind gar nicht vertreten, Max Ophüls und Douglas Sirk nur mit ihren weniger bekannten Filmen "Schweigegeld für Liebesbriefe" ("The Reckless Moment", 1949) bzw. "Der letzte Akkord" ("Interlude", 1957).
Platz bleibt so für Werke und Regisseure, die bislang kaum beachtet wurden und weitgehend unbekannt sind. So kann Clemens G. Williges die lange vergessene Stummfilmpionierin Lois Weber (1879 – 1939) und ihr Meisterwerk "Shoes" (1916) ins Licht rücken, das mit dem "Plädoyer für Gleichberechtigung, Lohngerechtigkeit und sexueller Selbstbestimmung" für den Autor so aktuell ist wie vor 100 Jahren.
Robert Zion richtet den Fokus bei seinem Beitrag zu Fritz Langs "Das wandernde Bild" (1920) auf die Raumgestaltung des Meisterregisseurs, während Christoph Seelinger anhand von Jean Epsteins "Treues Herz" ("Coeur fidèle", 1923) mit dem Schicksal einer von ihren Pflegeeltern und einem Kleinkriminellen rücksichtslos ausgebeuteten jungen Frau eine Geschichte vorstellt, die für ein Melodram prototypisch ist.
Michael Klein wiederum rühmt die visuelle Brillanz von Friedrich Wilhelm Murnaus "Sonnenaufgang" ("Sunrise", 1927), aus dem auch das Cover des Hefts stammt. Tonio Klein geht dagegen der Frage nach, ob Sam Woods "Gangsterbraut" ("Hold Your Man", 1933) wirklich in der Mitte von der Komödie zum Drama kippt.
Weitgehend unbekannt dürften der mexikanische Film "The Woman of the Port" ("La mujer del puerto", 1934) und die deutsch-ägyptische Produktion "Wedad" (1936) sein. Während Christoph Seelinger bei ersterem die Handlungsentwicklung vom Idyll zu tiefster Tragik nachzeichnet, blickt er bei letzterem vor allem auf die ausführlichen Gesangsszenen.
Die Übersteigerung des Melodrams in William Wylers Klassiker "Stürmische Höhen" ("Wuthering Heights", 1939) wird ebenso herausgearbeitet, wie die Verbindung von Film noir, Gesellschaftskritik und Melodram in Nicholas Rays "Sie leben bei Nacht" ("They Live By Night", 1949) und Ida Lupinos "Der Mann mit den zwei Frauen" ("The Bigamist", 1953).
Als Gegenpol zu Irving Reis´ "The Big Street" (1942), in dem die obsessive Liebe eines Kellners zu einer selbstsüchtigen Nachtclub-Sängerin unerwidert bleibt, kann man Federico Fellinis "Das Lied der Straße" ("La Strada", 1954) sehen, in dem die naive Gelsomina vom grobschlächtigen Schausteller Zampano nur Verachtung erfährt. Unerwiderte Liebe steht aber auch im Zentrum von "Die Kunst geliebt zu werden" ("Jak byc kochang", 1963) des fast vergessenen Polen Wojciech Jerzy Has, an dessen Bedeutung Marco Koch schlaglichtartig erinnert.
Gegenpol zu den unglücklichen Liebesgeschichten ist auch Yasujiro Ozus "Die Reise nach Tokio" ("Tokyo monogatari", 1953), bei dem Roman Widera besonders auf die Familie im Umbruch vor dem Hintergrund der Modernisierung Japans in den 1950er Jahren blickt. Lars Johansen dagegen nützt seinen Beitrag zu Michail Kalatosows "Die Kraniche ziehen" ("Letjat shurawli", 1957), in dem eine Liebe durch den Krieg zerstört wird, um auch Einblick in das Schaffen Kalatasows zu bieten und die Kameraarbeit von Sergei Pawlowitsch Urussewski zu würdigen.
Und wie Liebe am Krieg oder daran scheitert, dass Gefühle nicht erwidert werden, so scheitert sie schließlich in Konrad Wolfs "Der geteilte Himmel" (1963) an der deutsch-deutschen Teilung. Denn während der Chemiker Manfred sein Glück im Westen sucht, bleibt seine Freundin Rita im Osten zurück. Lars Johansen widmet sich in seinem Beitrag dabei nicht nur dem historischen Hintergrund und der Autorin Christa Wolf, die die literarische Vorlage lieferte, sondern auch den filmischen Einflüssen Wolfs und widerspricht dem Vorwurf, dass es sich bei diesem Film um eine Aufforderung zur Republikflucht handle.
Wie schon die Sonderhefte zum Noir Western und Gangsterfilm besticht auch "Melodram essential" nicht nur durch die spannende Auswahl, sondern auch durch seine fundierten und mit spürbarer Begeisterung geschriebenen Texte. So weckt dieses Heft nicht nur große Lust die weitgehend unbekannten Filme selbst zu sehen, sondern regt auch zu einem Wiedersehen der schon bekannten Klassiker an.
Melodram essential, 35 mm – Das Retro-Filmmagazin Sonderausgabe Nr. 8, Saarbrücken 2023, 52 S., € 6,90 – Bestelladresse: https://35mm-retrofilmmagazin.de/2023/01/35-millimeter-sonderausgabe-8-melodram-essential/
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