Was macht einen Film zum Skandal? Welche Inhalte und filmischen Darstellungsweisen verstörten das Publikum im Laufe der Filmgeschichte und provozierten Proteste? Vorwiegend aus psychologischer und psychoanalytischer Film werden in dem von Hannes König und Theo Piegler herausgegebenen Band 28 Filme analysiert.
„Verstörend, anstößig, pervers: den filmischen Tabubrüchen auf der Spur“ lautet der Untertitel des im Springer Verlag erschienenen Buches. Die Grenzen sind dabei freilich je nach Zeit und Gesellschaft verschieden. Sorgte 1896 in „The Kiss“ schon ein kurzer Leinwandkuss für einen Skandal, erregte 1933 Hedy Lamarr mit Nacktbad und Andeutung eines Orgasmus in „Ekstase“ die Öffentlichkeit, so können heute in der westlichen Welt Sexszenen kaum mehr Proteste hervorrufen. Unbestritten ist aber, dass Filmskandale häufig an sexueller Darstellung, aber auch an Inszenierung von Gewalt sowie religiösen und politischen Kontexten entbrannten.
Stefan Volk, der 2011 in „Skandalfilme“ chronologisch und ausführlich umstrittene Filme von 1919 bis 2006 analysierte und mit zahlreichen Zitaten Einblick in die Rezeption bot, arbeitet in einem einleitenden Artikel am Beispiel von Willi Forsts „Die Sünderin“ anschaulich heraus, was einen Film zum Skandalfilm macht und wie dieser dann zu einem Filmskandal wird: Erst die öffentliche Wahrnehmung kann den Film zum Skandal machen, der Ruf nach Zensur sorgt für einen Filmskandal.
Ausgehend von Todd Brownings „Freaks“ zeigen die Herausgeber Hannes König und Theo Piegler anschließend auf, wie fast jeder Film selbst eine Freakshow ist und mit dem Verlangen des Zuschauers nach Außergewöhnlichem spielt und sich vielfach am schmalen Grat zwischen Lust und Ekel bewegt. Werden dabei die Grenzen überschritten, gewinnt Ekel und Ablehnung beim Zuschauer die Überhand – vielleicht auch, weil ihm das Gezeigte zu nahe geht, an Unterbewusstes rührt, den Zuschauer mit der eigenen Fremdheit konfrontiert -, empört man sich über den Film und er wird zum Skandalfilm.
Auf diese grundsätzlichen Artikel folgen 26 Filmanalysen, die nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet sind. Auf Grenzüberschreitungen im Bereich des Sexuellen wie Michael Powells „Peeping Tom“ (1960) , Stanley Kubricks „Lolita“ (1962) oder Larry Clarks „Kids“ (1995), folgen Inszenierungen von Krieg und Gewalt, die Proteste hervorriefen, wie Lewis Milestons „Im Westen nichts Neues“ (1930), Michael Verhoevens o.k.“ (1970), Pier Paolo Pasolinis „Salò“ (1975) oder Oliver Stones „Natural Born Killers“ (1994).
Als Beispiele für politische Provokationen werden unter anderem „Borat“ (2006) und Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ (2009) analysiert, während als Filme, die von religiöser Seite heftig kritisiert wurden, Monty Pythons „Das Leben des Brian“ (1979), Martin Scorseses „Die letzte Versuchung Christi“ (1988), Mel Gibsons „Die Passion Christi“ (2004), aber auch David Finchers „Sieben“ (1995) untersucht werden.
Keinen umfassenden Überblick über die Geschichte des Skandalfilms wollen König/Piegler bieten, klassische Skandalfilme wie „Ekstase“, Ingmar Bergmans „Das Schweigen“, Bernardo Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“ oder Nagisa Oshimas „Im Reich der Sinne“ fehlen – auch wohl deswegen, weil diese teilweise schon in dem ebenfalls im Springer Verlag erschienenen Band „Lust und Laster“ ausführlich behandelt wurden.
Andererseits werden auch Filme analysiert, die keinen gesellschaftlichen Skandal hervorriefen wie Ang Lees Oscar-Sieger „Brokeback Mountain“ oder David Lynchs „The Straight Story“. Während bei letzterem Timo Storck auf der Irritation fokussiert, die aufgrund des Bruchs mit den Erwartungen entsteht, die ein Film von David Lynch weckt, untersucht Brigitte Ziob die Darstellung der verbotenen Cowboyliebe in einer homophoben Gesellschaft.
Mit den beiden Netflix-Produktionen „To the Bone“ (2017) und „13 Reasons Why“ („Tote Mädchen lügen nicht“, 2017) sind auch zwei aktuelle Filme dabei, die mit ihren Themen Anorexie bzw. Suizidalität für Aufsehen und Kontroversen sorgten. Ausführlich gehen die Autoren dabei auf die Darstellung dieser Themen in diesen Produktionen ein.
Da die meisten der 28 Autoren Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychoanalytiker sind, steht dieser Aspekt vielfach im Zentrum der Analyse. Gemeinsam ist den jeweils 10- bis 20-seitigen Beiträgen eine einleitende Skizzierung der Handlung, um dann auf das Skandalöse des Films einzugehen. Anschließend werden teilweise Unterschiede zwischen der literarischen Vorlage und dem Film oder stilistische Besonderheiten herausgearbeitet, oft auch ausführlich die psychische Verfassung der Protagonisten analysiert und psychoanalytische Überlegungen angestellt. – In ihren detaillierten Analysen und dem psychologischen oder psychoanalytischen Blick laden die Beitrage dabei vielfach zu einer neuen und vertieften Sehweise der vorgestellten Filme ein.
Hannes König, Theo Piegler (Hg.), Skandalfilm? – Filmskandal!, Springer Verlag, Berlin 2019, 422 Seiten, € 29,99, ISBN 978-3-662-58318-0
Comments