Die junge Donya ist aus ihrer Heimat Afghanistan geflohen, doch in Kalifornien fühlt sie sich verloren: Keine beklemmende Flüchtlingsgeschichte, sondern ein von lakonischem Humor durchzogenes an Jim Jarmusch und Aki Kaurismäki erinnerndes leises und warmherziges Kleinod.
In präzisen statischen Einstellungen fangen Babak Jalali und seine Kamerafrau Laura Valladao den Arbeitsprozess und die Handgriffe in der Fabrik für Glückskeks ein, in der die 20-jährige Afghanin Donya (Anaita Wali Zada) arbeitet.
Spürbar wird in diesem Auftakt nicht nur die Monotonie der Arbeit, sondern auch schon die Verlorenheit der jungen Frau. Mit einem Evakuierungsflug ist sie aus ihrer Heimat geflohen, als die Taliban die Macht übernahmen und die amerikanischen Truppen im August 2021 abzogen. Nicht mehr sicher war ihr Leben, da sie zuvor auf US-Truppenstützpunkten als Übersetzerin arbeitete.
Jetzt lebt sie in einem Apartmentkomplex für afghanische Flüchtlinge im kalifornischen Fremont, arbeitet aber lieber in San Francisco, um nicht den ganzen Tag Landsleute zu sehen. So eintönig die Arbeit auch sein mag, so hat sie dabei in Joanna (Hilda Schmelling) doch eine nette Kollegin, mit der sie sich über mögliche Beziehungen und Blind Dates unterhalten kann.
Aber wohl auch, weil sie sich schuldig fühlt, weil sie ihre Familie in Afghanistan zurückgelassen hat, leidet Donya an Schlafproblemen. Über einen anderen Flüchtling kommt sie schließlich zu einem Termin bei einem Psychiater, der sie zwar zuerst nicht aufnehmen will, dann aber wöchentliche Gesprächstermine mit ihr vereinbart.
Aber auch beruflich kommt ihr Leben in Bewegung, als die für die Texte der Glückskeks zuständige ältere Chinesin plötzlich stirbt und der freundliche chinesische Chef sie mit dieser Aufgabe betraut. Werden die kurzen Sprüche zum Lebensglück, die sie dabei erfinden muss, auch privat bei der einsamen Frau etwas in Bewegung setzen?
Wie der Einstieg mit dem genauen Blick auf den Arbeitsprozess an die Filme von Aki Kaurismäki erinnert, so erinnert die Verlorenheit Donyas an Jim Jarmuschs "Stranger than Paradise". Mit diesem verbindet "Fremont" auch die bestechende Schwarzweißfotografie, die ebenso wie die Trompetenmusik eine melancholische Stimmung evoziert.
Wie das enge 4:3 Format den Blick der Zuschauer:innen aufs Wesentliche lenkt, so sorgt der weitgehende Verzicht auf Kamerabewegungen zugunsten einer Abfolge von statischen Einstellungen für einen lakonisch-trockenen Erzählstil. Witz entwickelt sich dabei allein schon dadurch, wenn beim Psychiater der Arzt und Donya in halbnahen frontalen Aufnahmen einander gegenübergestellt werden, aber kaum je gemeinsam im Bild zu sehen sind.
Wesentlich zum beglückenden Gesamteindruck tragen aber auch die ebenso knappen wie prägnanten Dialoge und das trockene Spiel des aus Profis und Laien gebildeten Ensembles bei. Großartig ist die afghanische Journalistin und Moderatorin Anaita Wali Zada, die hinter dem emotionslosen Blick immer die stille Verlorenheit und Einsamkeit Donyas spüren lässt, hinreißend aber auch Gregg Turkington in der Rolle des Psychiaters.
So wenig Jalali, der 1978 im Iran geboren wurde und seit 1986 vorwiegend in England lebt, die psychische Belastung Donyas verharmlost, so optimistisch ist der vierte Spielfilm des Politikwissenschaftlers und Absolventen der London Film School im Kern doch. Denn so sehr die Einsamkeit nicht nur Donyas, sondern auch die eines alten afghanischen Gastronomieangestellten, bei dem sie jeden Abend im Gasthaus sitzt, spürbar ist, wenn sie sich in die Traumwelt einer TV-Serie flüchten, so warmherzig und einfühlsam ist doch Jalalis Blick.
Immer wieder gelingen ihm hinreißende Szenen von einem Telefonat Donyas mit ihrer Kollegin, bei der es um die angeblichen Vorzüge eines Doppelbetts geht, bis zu einer berührenden Begegnung mit einem kaum weniger einsamen Automechaniker, dessen Verkörperung von Jeremy Allen White ein Höhepunkt des Films ist.
Wie Kaurismäki speziell zuletzt in "Fallen Leaves – Fallende Blätter" versteht es auch der 45-jährige Iraner meisterhaft die Balance zwischen Ernst und Komik zu wahren, sodass Szenen immer wieder gleichzeitig tieftraurig und wunderbar witzig sind. Zum Kleinod macht diesen Film aber auch Jalalis Kunst die Handlung nicht aufzubauschen, sondern beiläufig und unaufgeregt zu entwickeln. Nichts Spektakuläres passiert hier und lange Zeit scheint Stillstand dieses Porträt Donyas zu bestimmen, doch der pointierte Blick für Details und die Präzision der einzelnen Szenen sorgen für ein großes Kinoerlebnis.
Fremont USA 2023 Regie: Babak Jalali mit: Anaita Wali Zada, Jeremy Allen White, Gregg Turkington, Hilda Schmelling, Avis See-tho, Siddique Ahmed, Taban Ibraz Länge: 91 min.
Läuft jetzt in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - Ab 9.11. in den deutschen und ab 5.1. 2024 in den österreichischen Kinos.
Trailer zu "Fremont"
Comments