Für viele gilt Martin Scorsese als der bedeutendste Regisseur der Gegenwart. Mehrere seiner Filme wie "Taxi Driver", "Raging Bull" oder "Good Fellas" landen regelmäßig auf Bestenlisten. Über mehr als 50 Jahre spannt sich sein Schaffen, umfasst rund 25 Spielfilme und 10 Dokumentarfilme, spannt sich vom Gangsterfilm über ein Musical bis zum Historienfilm, doch immer spürt man die Leidenschaft, die hinter diesen Filmen steckt. Das Österreichische Filmmuseum widmet Scorsese anlässlich seines 80. Geburtstags am 17. November im September und Oktober eine umfassende Retrospektive.
Gerade mal 1,63 Meter groß ist Martin Scorsese, doch schon in seinem atemberaubenden Sprechtempo kommt eine Energie und Leidenschaft zum Ausdruck, die auch seine Filme kennzeichnet. Im New Hollywood der späten 1960er Jahre ist er groß geworden, über 50 Jahre ist er nun aktiv, doch ungebrochen ist seine Schaffenskraft. In der Postproduction befindet sich der Thriller "Killers of the Flower Moon", ein Biopic über den US-Präsidenten Theodor Roosevelt soll er ebenso vorbereiten wie das historische Seefahrerdrama "The Wager: A Tale of Shipwreck, Mutiny, and Murder".
So agil der gebürtige New Yorker trotz seines Alters ist, so kraftvoll sind seine Filme. Er selbst dagegen war als Kind kränklich und durfte als Asthmatiker nicht an den rauen Straßenspielen seiner Altersgenossen teilnehmen. Viel Zeit verbrachte er so zu Hause oder im Kino. So begann er Storyboards von Filmen zu zeichnen, die er gesehen hatte und lernte auch übers Fernsehen das klassische Hollywood-Kino ebenso wie den italienischen Neorealismus kennen – zwei Einflüsse, die seine Filme entscheidend prägten.
Neben dem Kino prägten ihn aber entscheidend auch seine Herkunft aus Little Italy, dem Milieu der italienischen Immigranten in New York, und seine katholische Familie. Priester oder Filmregisseur waren für den Italo-Amerikaner die beruflichen Alternativen und nach einem Jahr im Priesterseminar wechselte er zur New York University, um zunächst englische Literatur und dann Film zu studieren.
Der Religion hat Scorsese aber nicht abgeschworen und leitmotivisch ziehen sich zumindest auf der Subtext-Ebene religiöse Themen durch seine Filme. "Für deine Sünden zahlst du nicht in der Kirche, sondern auf der Straße", stellt schon Harvey Keitel in "Mean Streets" (1973) fest, in dem Scorsese kraftvoll vor dem gewalttätigen Milieu von Little Italy den perspektivelosen Alltag der Jugendlichen schildert. Am Ende des pessimistischen Boxerdramas "Raging Bull" (1980) steht ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium, "Bringing Out the Dead" (1999) schließt mit einer Nachstellung von Michelangelos Pietá.
Mit der Adaption von Nikos Kazantzakis Roman "The Last Temptation of Christ" (1988) drehte Scorsese schließlich auch einen expliziten Bibelfilm, während er sich in seinem, im Japan des 17. Jahrhunderts spielenden Langzeitprojekt "Silence" (2016) am Schicksal zweier Jesuiten intensiv und bohrend mit Fragen des Glaubens und des Zweifels auseinandersetzt.
Schuld und Sühne und die nie erfüllte Sehnsucht nach Erlösung ziehen sich leitmotivisch durch Scorseses Werk.
Immer wollen seine Charaktere aus ihrer Umwelt ausbrechen, wollen jemand anderer werden oder die Welt verändern und vollziehen doch nur eine Kreisbewegung: Robert de Niros "Taxi Driver" (1976), bei dem schon der Name "Travis" Assoziationen an "travel" und somit an Veränderung und Bewegung hervorruft, steuert am Ende in nahezu identen Einstellungen wie am Beginn sein gelbes Taxi durch das nächtliche New York.
Der Weltmeistertitel führt den Boxer Jake La Motta in "Raging Bull" so wenig aus der Isolation und dem inneren Gefängnis wie die Musik Johnny Doyle in "New York, New York" (1977) und auch Leonardo di Caprio als Millionär Howard Hughes in "Aviator" (2004) kann sich nie von seinen Obsessionen befreien.
Monoman arbeitet auch der dilettantische Komiker Rupert Pupkin (Robert de Niro) in "The King of Comedy" (1982) an seiner Karriere, Erfolg und Berühmtheit erreicht er aber erst durch Entführung eines TV-Talkmasters (Jerry Lewis). – In den Filmen Scorseses gibt es kein Happy-End und keine Erlösung und im Gegensatz von äußerem Erfolg und innerem Scheitern entwickeln diese mit Inbrunst inszenierten Dramen gesellschaftskritisches Potential.
Wie sich Scorseses Filme spätestens mit "The King of Comedy" von Little Italy lösen, so erobert sich auch der Regisseur selbst ab dieser Satire ein neues Umfeld und neue Inhalte ohne seine Obsessionen aufzugeben. Vom innovativen Regisseur des New Hollywood steigt er damit selbst zum Studio-Regisseur auf, der innerhalb des Systems seine persönlichen Filme zu drehen und die Synthese zwischen klassischem Hollywood und modernem Kino zu verwirklichen versucht.
Denn jeder Film dieses vom Kino besessenen Regisseurs ist auch eine Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte. Mit dem Billard-Film "The Color of Money" (1986) drehte er eine Fortsetzung zu Robert Rossens Meisterwerk "The Hustler" ("Haie der Großstadt", 1961) und mit "Cape Fear" (1991) ein Remake von J. Lee Thompsons 1961 entstandenem Thriller gleichen Titels ("Cape Fear – Ein Köder für die Bestie").
Bei braven Neuverfilmungen hat es Scorsese dabei aber nicht belassen, sondern die schon in den Vorlagen angelegten Themen Schuld und Sühne vertieft und schärfer herausgearbeitet. Der brutale Killer und der schmierige Anwalt sind in der Neuverfilmung von "Cape Fear" nicht mehr konträre Figuren, sondern nur noch zwei Seiten einer Medaille und jeder könnte wohl, wäre er in einem anderen Milieu aufgewachsen, an der Stelle des jeweils anderen stehen.
Auch in "Departed" (2006), für den er nach fünf Nominierungen für die beste Regie im sechsten Anlauf endlich einen Oscar gewann, spielt Scorsese mit dieser Ambivalenz. In virtuoser Inszenierung stellt er in diesem Remake des Hongkong-Polizistenthrillers "Infernal Affairs" einem jungen Polizisten, der in eine Gangster-Organisation eingeschleust wird, einen Gangster gegenüber, der verdeckt die Polizei ausspioniert.
Am Kino arbeitet sich Scorsese, der schon 1980 auf den desolaten Zustand alter Farbfilme aufmerksam machte und sich für ihre Restaurierung einsetzte und mit "A Personal Journey with Martin Scorsese through American Movies", (1995) und "Il mio viaggio in Italia – My Voyage to Italy" (1999) selbst jeweils rund vierstündige Dokumentarfilme über die amerikanische und die italienische Filmgeschichte drehte, aber auch mit jedem anderen seiner Filme ab.
Wie "Raging Bull" als Antwort auf die in "Rocky" und Co. besungenen Erfolgsstories zu lesen ist, so stellt "The Last Temptation of Christ", der einen zweifelnden und zerrissenen, sehr menschlichen Jesus präsentiert und gerade deswegen heftige Diskussionen auslöste, einen Kontrapunkt zu den kitschigen Bibelfilmen Hollywoods dar.
Mit "Hugo Cabret" (2011) erwies er liebevoll dem Stummfilmmeister Georges Méliès seine Reverenz und "Aviator" wiederum spielt mit der Hauptfigur und dem Motiv der verlorenen Unschuld der Kindheit auf Orson Welles´ "Citizen Kane" (1940) an. Und während sich "Gangs of New York" (2002) als amerikanisches Gegenstück zu Luchino Viscontis italienischem Gründungsepos "Il Gattopardo" (1963) präsentiert, ist der Thriller "Shutter Island" (2010) gespickt mit Anspielungen auf den klassischen Film noir und den deutschen Stummfilm-Klassiker "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920).
Wie seine Charaktere ist auch Scorsese selbst ein Besessener – ein Besessener des Kinos, der über sich selbst sagt "My whole life has been movies and religion". Erst dieses persönliche Engagement und diese Leidenschaft, die sich auch in der akribischen - und dadurch atmosphärisch dichten - Beschwörung der Milieus äußert, ist die Triebfeder und das Kraftzentrums von Scorseses Filmen, verleihen ihnen ihre Intensität und zeitlose Strahlkraft.
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Die 10 besten Filme von Martin Scorsese
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