Osgood Perkins rückt in seiner Neuinterpretation des klassischen Mädchens der Brüder Grimm die Frauenfiguren in den Mittelpunkt, doch auch großartige Bilder und starkes Sounddesign können nicht über den fehlenden Spannungsbogen hinwegtäuschen.
Wenn aus "Hänsel & Gretel" "Gretel & Hänsel" wird, ist schon klar, dass hier das Mädchen im Mittelpunkt steht. Gretel (Sophia Lillis) ist bei Osgood Perkins die ältere, steht an der Grenze zum Erwachsenalter und kümmert sich um ihren kleinen Bruder Hänsel (Samuel Leakey).
Männer sind weitgehend abwesend. Schon im Prolog steht ein todkrankes Mädchen im Zentrum, das von einer Hexe gerettet wird, in Folge aber ihrerseits allen Menschen, auch ihrem Vater den Tod bringt. Eine Leerstelle ist auch der Vater von Gretel und Hänsel. Aus Armut versucht die Mutter der Tochter eine Stelle als Haushälterin bei einem Landlord zu verschaffen, der aber dem Teenager nur unverhohlen sexuelle Avancen macht. Auch eine Aufnahme in ein Kloster wäre eine Option, doch beides lehnt Gretel ab und flüchtet mit Hänsel in den Wald.
Wenn die Geschwister nach überstandenen Gefahren zum Hexenhaus kommen, verengt sich der Film auf drei Personen und das Haus und sein Umfeld als einzigen Schauplatz. Hier erfährt Gretel von der Hexe (Alice Krige), die schließlich mit Rückgriff auf den Prolog eine Hintergrundgeschichte erhält, nicht nur eine Initiation in ihre magischen Fähigkeiten, sondern reift auch, ist keinesfalls nur Opfer, sondern lernt der Hexe Kontra zu geben und um Hänsel zu kämpfen.
Denn rasch fühlt Gretel aufgrund ihrer seherischen Gabe, dass etwas in dem Haus nicht stimmt und sowieso klar ist ihr, dass man skeptisch sein muss, wenn man so großzügig bewirtet wird. Übernommen wird so auch die Moral des Märchens, dass es kein Geschenk ohne Gegenleistung gibt und man stets achtsam sein muss.
Andererseits legt der Sohn des "Psycho"-Darstellers Anthony Perkins den Fokus auf die weibliche Emanzipationsgeschichte. Er lässt nicht nur Gretel zunehmend selbstständiger und selbstbewusster agieren, sondern thematisiert auch Geschwisterliebe und die kindliche Urangst von den Eltern, speziell der Mutter, verstoßen zu werden.
Wichtiger als der Inhalt und die Figuren scheint Perkins aber die visuelle Gestaltung zu sein. Große Bildkraft entwickelt "Gretel & Hänsel" durch das perfekte Zusammenspiel von Production-Design und Kamera. Einerseits wirkt dabei die Welt durch den Hinweis auf Abgaben an den Bischof, das bäuerliche Leben und das armselige Elternhaus der Kinder mittelalterlich, andererseits das streng geometrische, dreieckige Hexenhaus wiederum sehr modern und schick. Ein visuell interessantes Spannungsfeld wird mit diesen Gegensätzen aufgebaut, doch dies wird nicht vertieft, sondern bleibt im rein Dekorativen stecken.
Schaurige Stimmung erzeugt dafür Kameramann Galo Olivares mit dunklen, nur von Kerzenlicht erhellten Bildern und setzt auch mit markanter Farbdramaturgie starke Akzente. Wirkungsvoll gesteigert wird diese Atmosphäre noch durch ein beunruhigendes Sounddesign und den Elektro-Soundtrack des Franzosen Rob. Entsprechend der Vorlage jedem Realismus enthoben wirkt diese Märcheninterpretation dadurch und lässt den Zuschauer quasi in einen Traum eintauchen.
Sehr stylisch ist das zweifellos, nicht zu übersehen ist aber, dass Perkins über diesen Bilderrausch vergisst einen echten Spannungsbogen aufzubauen. Das liegt nicht so sehr am langsamen Erzählrhythmus als vielmehr an der fehlenden Komplexität der Handlung. Nur Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, ist da doch zu wenig, erzählerisch müsste mehr geboten werden. Da reicht letztlich auch Sophia Lillis´ starke Verkörperung der Gretel nicht, um diesem zwar atmosphärisch dichten und schaurig schönen, aber kalten und emotionslosen Film Leben einzuhauchen.
Läuft derzeit in den Kinos - z.B. Metrokino Bregenz
Trailer zu "Gretel & Hänsel"
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