Im frühen 18. Jahrhundert kommt ein junger Literat mit dem Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg nach Paris: Xavier Giannoli gelang dank geschickter Akzentuierung der aktuellen Momente von Honoré de Balzacs Roman, prachtvoller Ausstattung, pointierter Inszenierung und glänzender Besetzung eine brillante Gesellschaftssatire.
15 Nominierungen für den französischen Filmpreis César und schließlich sieben Trophäen, darunter für den besten Film, das beste adaptierte Drehbuch, die beste Kamera sowie beste Kostüme und bestes Szenenbild wecken hohe Erwartungen. – Und "Illusions perdues" erfüllt diese mühelos.
Xavier Giannoli hat nach seinem in den 1920er Jahren spielenden "Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne" mit Honoré de Balzacs zwischen 1837 und 1843 entstandenem dreiteiligen Roman "Verlorene Illusionen" erneut einen historischen Stoff gewählt. Er modernisiert die in den 1820er Jahren spielende Geschichte um den jungen Lucien Chardon (Benjamin Voisin), der sich lieber nach seiner Mutter adelig de Rubémpre nennt, nicht, akzentuiert aber geschickt die aktuellen Aspekte des Romans.
Statt Drucker bei seinem Schwager im ländlichen Angoulême wäre Lucien lieber Dichter. Leidenschaftliche Liebesgedichte schreibt er an die Adelige Louise de Bargeton (Cécile de France), die seine literarischen Ambitionen fördert. Als ihre Beziehung auffliegt, fliehen beide nach Paris. Doch dort distanziert sich Louise von der Gesellschaft des Underdogs, um in ihren Kreisen angesehen zu bleiben.
Lucien wiederum kommt zwar mit seinen Gedichten nicht an, taucht aber in das Pressewesen ein und lernt eine Welt kennen, in der nicht nach Wahrheit gesucht wird, sondern das gedruckt wird, für das der beste Preis bezahlt wird. Lange vor es Influencer und Likes in den Sozialen Medien gab, wird so Stimmung für oder gegen etwas gemacht und gegen Bezahlung werden nicht nur Romane und Theaterstücke, sondern auch Menschen der vornehmen Gesellschaft niedergemacht oder hochgejubelt. Und auf den Theaterbühnen werden auch mit Tricks Applaus und Buhrufe simuliert, um das Publikum je nach gewünschter Richtung mitzureißen.
Ganz auf der Höhe der Zeit ist "Illusions perdues" mit dieser Auseinandersetzung mit Stimmungsmache und einem oberflächlichen Journalismus, der nur an Sensationen und Verkaufszahlen interessiert ist. Ethische Fragen spielen dabei keine Rolle, sondern die Medien werden auch eingesetzt, um politisch-gesellschaftliche Kämpfe zwischen dem aufkommenden Bürgertum und den Royalisten auszufechten. Als Lucien hier die Seiten wechselt, zieht er sich den Zorn beider Parteien auf sich und fiese Intrigen werden gegen den Emporkömmling, der in der Szene mit seiner spitzen Feder den Aufstieg geschafft hat, geschmiedet.
Mit Schwung und Verve hat Xavier Giannoli diese Geschichte inszeniert. Geschickt lässt er nicht nur den Gegensatz von Stadt und Land und Unterschicht und gehobener Gesellschaft aufeinandertreffen, sondern stellt auch der schnelllebigen Presse, deren Meldungen am nächsten Tag als Packpapier für Fisch verwendet werden, Literatur von Dauer gegenüber.
Mit prächtigen Kostümen und Ausstattung sowie den glanzvollen Bildern von Kameramann Christophe Beaucarne beschwört Giannoli atmosphärisch dicht die Stimmung der Zeit. Dynamisch treibt er die Handlung voran, lässt immer wieder geschickt einen Erzähler im Voice-over das Geschehen kommentieren und zeigt, wie Lucien in dieser Großstadt rasch seine Illusionen verliert und seine Seele verkauft.
Hinreißend deckt er auch auf, wie nah Hymne auf einen Roman und Verriss nebeneinanderliegen, wenn zu positiven Beschreibungen wie fantasievoll und brillant konstruiert jeweils postwendend negative Urteile wie zusammenhangslos und vorhersehbar gegenübergestellt werden.
Doch so allmächtig die Medien scheinen, so sind sie letztlich doch von den politischen Verhältnissen abhängig und mit einem Schlag weggewischt werden missliebige Medien, wenn die Machthaber die Zügel anziehen. Auch darin lässt sich "Illusions perdues" durchaus aktuell lesen, wenn man an Entwicklungen speziell in autokratischen Staaten denkt.
Doch trotz der ernsten Themen, die hier hereinspielen, bleibt diese geschliffene Gesellschaftssatire ein leichthändig-flirrendes Vergnügen. Zu verdanken ist dies auch einem bis in die Nebenrollen perfekt gewähltem und lustvoll aufspielenden Ensemble. Großartig ist hier der junge Benjamin Voisin als Lucien, der allzu sehr auf seine eigenen Fähigkeiten vertraut und den schließlich seine Arroganz zu Fall bringt.
Eine Idealbesetzung ist Gerard Depardieu als Drucker, der sich für Bücher nicht interessiert und einzig am Geschäft interessiert ist, und gefühlvoll spielt Cécile de France Louise de Bargeton als Frau, die Lucien zwar liebt, aber doch ihre gesellschaftliche Position nicht gefährden will. Stark ist aber auch Vincent Lacoste als gerissener Journalist Étienne Lousteau, der Lucien zunächst fördert, und der kanadische Regisseur Xavier Dolan als Schriftsteller Raoul Nathan, der das schriftstellerische Talent Luciens ernsthaft fördern will und verhindern will, dass er im journalistischen Sumpf alle Prinzipien verliert.
Illusions perdues Frankreich / Belgien 2021 Regie: Xavier Giannoli mit: Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Xavier Dolan, Salomé Dewaels, Jeanne Balibar, Gérard Depardieu Länge: 149 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Illusions perdues"
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