Mit fast 95 Jahren hat Clint Eastwood seinen vermutlich letzten Film gedreht – und was für einen: Ein schnörkelloses Gerichtsdrama, das packend Fragen zum US-Rechtssystem und Gerechtigkeit aufwirft und bis zum Ende aufregend vielschichtig und ambivalent bleibt.
In den USA sollte Clint Eastwoods "Juror Nr.2" zunächst gar nicht in die Kinos kommen und nur via Streaming verbreitet werden. Als das Studio sich dann doch zu einem kleinen Kinostart entschloss, entwickelte sich das Gerichtsdrama zu einem überraschenden Erfolg. Doch wirklich traut Warner Bros. dem Film scheinbar doch nicht und startet ihn nun zwar in Deutschland und der Schweiz, aber (vorerst?) nicht in Österreich.
Die Wahl eines Gerichtsdramas für seinen wohl letzten Film könnte auch mit Eastwoods hohem Alter zusammenhängen. Die Konzentration auf einen Gerichtssaal und eine relativ überschaubare Anzahl an Figuren erleichtern die Arbeit im Vergleich zu einer Großproduktion doch sehr.
Stemmen muss man aber auch diese Aufgabe und Eastwood erweist sich von der ersten Einstellung an als Meister. Wie die Kamera von Yves Bélanger auf einer Zeichnung über eine Waage und dann zu den verbundenen Augen der Iustitia fährt, sich der Vorspann auf das Insert des Titels beschränkt, und dann auf die verbundenen Augen einer Frau überblendet wird, führt einerseits gleich ins Thema Gerechtigkeit hinein, stellt andererseits aber auch schon das Paar Ally (Zoey Deutch) und Justin (Nicholas Hoult) vor.
Justin führt Ally durchs neue Haus und nach einem Schnitt ist sie auch schon hochschwanger, während für Justin eine Einladung als Geschworener bei einem Mordprozess auf dem Tisch liegt. – Schon dieser Auftakt zeigt Eastwoods Kunst der Reduktion und der Verdichtung, die den ganzen Film kennzeichnet. Hier gibt es kein Beiwerk, keine überflüssige Szene, sondern Intensität gewinnt der Film durch die Konzentration aufs Wesentliche.
Ein klassischer Gerichtsfilm entwickelt sich mit Prüfung der Geschworenen auf ihre Unvoreingenommenheit, Darlegung des Falls durch Staatsanwältin (Toni Collette) und Verteidiger (Chris Messina) und Zeugenvernehmung. Rasch muss aber Justin erkennen, dass er selbst in den Fall selbst involviert ist. Aufgrund seiner Vergangenheit wagt er aber nicht, dies zu gestehen.
Auf die Schlussplädoyers, die nicht wie gewohnt hintereinander gezeigt werden, sondern ineinander geschnitten werden, sodass immer Anklagepunkte und entlastende Momente direkt aufeinandertreffen, folgt die Beratung der Geschworenen. An Sidney Lumets Klassiker "Twelve Angry Men" erinnert Eastwoods Film in diesem Abschnitt einerseits, geht aber andererseits auch darüber hinaus.
Ausgehend von der Ansicht von Staatsanwältin und Verteidiger, dass die Wahrheit die Gerechtigkeit ist, wirft der "Juror Nr.2" nämlich immer wieder neue Fragen auf, die auch Schwächen des US-amerikanischen Rechtssystems aufdecken, von dem gesagt wird, dass es zwar nicht das beste, aber doch das bestmögliche sei.
Denn da will die Staatsanwältin den Fall nicht nur gewinnen, weil sie von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist, sondern sie weiß auch, dass die Verurteilung des wegen eines Frauenmords Angeklagten ihr Stimmen bei der anstehenden Wahl zum Bezirksstaatsanwalt bringen würde. Die Geschworenen wiederum sind am Fall im Grunde nicht interessiert und wollen eine möglichst rasche Entscheidung, um wieder zu ihrer Familie zu kommen, haben eine vorgefasste Meinung oder werden von persönlichen Erfahrungen geleitet, die nichts mit dem Fall zu tun haben.
Mögliche Schlamperei bei der Polizeiarbeit, Tunnelblick mit der Fixierung auf einen Verdächtigen werden ebenso angesprochen wie Zeugen, die gerne aussagen, was die Polizei hören will, da sie sich freuen, endlich einmal wahrgenommen zu werden. Und innerhalb dieser Fülle von Problemfeldern steht der Geschworene Nr. 2 Justin Kemp, den sein Dilemma zunehmend mehr belastet.
Als hochgradig konstruiert kann man "Juror Nr.2" bezeichnen, wenn zufällig ein Geschworener ausgewählt wird, der in den betreffenden Fall involviert ist, zufällig unter den Geschworenen auch ein Mann sitzt, der Polizeierfahrung besitzt, zufällig mit der hochschwangeren Ally auch das Familienglück des Geschworenen auf dem Spiel steht.
Doch konstruiert ist im Grunde natürlich jedes Drehbuch und die Kunst eines Autors – in diesem Fall des Debütanten Jonathan Abrams – besteht immer darin, dafür zu sorgen, dass die Geschichte für das Publikum so glaubwürdig bleibt, dass es ganz in die Welt des jeweiligen Films eintaucht und gar nicht die Zeit findet Unstimmigkeiten und Häufung von Zufällen zu hinterfragen.
Zweifellos ist "Juror Nr.2" modellhaft so angelegt, um Fragen zu Recht und Gerechtigkeit aufzuwerfen, ist aber so dicht getaktet und bringt mit überraschenden Wendungen immer wieder neue Fragen zur Thematik ins Spiel, sodass man gebannt der Handlung folgt.
Da stört auch nicht, dass der Film im Grunde altmodisch daherkommt und als Gerichtsdrama vom Dialog bestimmt wird und kammerspielartigen Charakter hat. Eastwoods Inszenierung ist nämlich so nüchtern und schnörkellos, dass keine Sekunde Leerlauf aufkommt, vor allem aber besticht der Blick auf die Menschen.
Eindrücklich stellt "Juror Nr.2" nämlich dem scheinbar unbestechlichen Rechtssystem vielfältige mögliche menschliche Fehler gegenüber, die das Urteil beeinträchtigen können. Eine große Qualität ist dabei, dass keiner der Betroffenen verurteilt wird, sondern das Handeln jedes Einzelnen nachvollziehbar bleibt. Gleichzeitig werden die Zuschauer:innen auch durchgängig mit der Frage konfrontiert, wie sie an der Stelle von Justin handeln würden.
Dass so ein Gerichtsfilm packt, ist freilich auch einem bis in die Nebenrollen hinein großartigen Ensemble zu verdanken. Eindringlich vermittelt Nicholas Hoult das moralische Dilemma des Geschworenen Nr. 2, dessen Vorname Justin auf die Gerechtigkeit verweist, und bildet mit Zoey Deutch ein Paar, dem man wirklich nur Glück wünschen kann.
Wie er zerrissen ist, bekommt aber auch Toni Collettes Staatsanwältin, deren Namen Faith wiederum auf Glauben und Vertrauen verweist, zunehmend Risse und Zweifel an ihrem Agieren, würde aber ihre Karriere riskieren, wenn sie eingreifen würde. – So kann es hier keine Sieger geben und klar ist am Ende nur, dass mehrere Figuren dieser Prozess und die dabei getroffenen Entscheidungen wohl bis zu ihrem Lebensende nicht loslassen wird.
Und die Zuschauer:innen werden den Kinosaal mit der Erkenntnis verlassen, dass das Rechtssystem durchaus fehleranfällig ist, es mit der Gerechtigkeit nicht so einfach ist und auch der Standpunkt "Wahrheit ist Gerechtigkeit" keine wirkliche Lösung bietet und immer wieder aufs Neue hinterfragt werden muss.
Juror Nr.2
Frankreich 2024
Regie: Clint Eastwood
mit: Toni Collette, Nicholas Hoult, Zoey Deutch, Kiefer Sutherland, Gabriel Basso, Francesca Eastwood, Leslie Bibb, J.K.Simmons
Länge: 114 min.
Läuft derzeit in den deutschen und Schweizer Kinos, z.B. im Kino Scala in St. Gallen.
Trailer zu "Juror Nr. 2" (mit SPOILERN)
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