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AutorenbildWalter Gasperi

Komm und sieh


Konsequent aus der Sicht eines etwa zwölfjährigen Jungen erzählt Elem Klimov in seinem 1985 entstandenen Kriegsfilm von den Massakern der Nazis in Weißrussland. – Bei Bildstörung ist das in seinem Realismus erschütternde und in seiner Bild- und Tonsprache überwältigende Meisterwerk mit reichem Bonus-Material auf DVD und Blu-ray erschienen.


Schon die erste Szene irritiert mit einem direkt in die Kamera sprechenden, die vierte Wand damit durchbrechenden Mann. Immer wieder wird Klimov in der Folge den 12-jährigen Florja (Alexej Krawtschenko), der sich bald zum Mann gesellt und in der von den Nazis verlassenen Stellung am Strand nach Waffen gräbt, direkt in die Kamera blicken lassen. Zeuge wird das Publikum so werden, wie der Junge innerhalb der 144 Minuten des Films bzw. der wenigen Tage der Handlung förmlich vergreist.


Ein Insert situiert die Handlung im Weißrussland des Jahres 1943. Florja möchte unbedingt zu den Partisanen und am "großen Kampf gegen die Deutschen" teilnehmen. Auch das Flehen der Mutter kann ihn nicht davon abhalten. Beklemmung evoziert schon das einfache Bauernhaus mit seiner niederen Decke und die Dominanz von dunklen Farben. Grau und Braun dominieren, Rot ist nur als Blut präsent. Gesteigert wird dieses Gefühl durch das enge 4:3 Bildformat, das nie ein Gefühl von Weite und Freiheit aufkommen lässt, sondern die Figuren in ihren Verhältnissen und ihrer Welt förmlich einsperrt.


Als Abenteuer stellt sich der Teenager das Leben bei den Partisanen vor, doch diese nehmen ihn nicht ernst, nehmen ihn beim ersten Einsatz nicht mit, sondern beauftragen ihn das Lager zu bewachen. Als die Deutschen dieses bombardieren muss Florja mit Glasha, der etwa 17-jährigen Geliebten des Kommandanten, flüchten. Zuflucht will er in seinem Elternhaus suchen, findet es aber leer vor. Nur Glasha – und mit ihr der Zuschauer – sieht, als sie weiterziehen, einen Leichenberg hinter einem Schuppen.


Mit weiteren Überlebenden verstecken sich Florja und Glasha zunächst auf einer Insel, doch als er Nahrung zu beschaffen versucht, gerät er in eine Vergeltungsaktion der SS. Kernstück von "Komm und sieh" ist diese rund 30-minütige, nur schwer zu ertragende Sequenz. Hier drängt die Handlung nicht vorwärts, vielmehr wird detailreich das Bild eines Infernos und menschlicher Barbarei gezeichnet.


Da sieht man auf der einen Seite, wie Frauen und Kinder in eine Holzkirche getrieben werden, und andererseits, wie sich die Nazis einen Spaß daraus machen, Menschen zu schikanieren und zu terrorisieren. Sichtlich Spaß macht es ihnen schließlich auch die Kirche in Brand zu stecken und mit ihren Maschinenpistolen darauf zu feuern.


Ein Insert wird später informieren, dass 628 weißrussische Dörfer von den Nazis niedergebrannt und ihre Bewohner getötet wurden. Im Fall des geschilderten Massakers werden die Partisanen freilich der Täter habhaft. Teilweise werden sie jede Schuld von sich weisen, einer wird sich aber in dieser Situation noch stolz zur nationalsozialistischen Rassenideologie bekennen, da ihm klar ist, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht.


Florjas ganze Trauer, Schmerz und Wut entladen sich aber, als er auf ein Bild mit der Aufschrift "Hitler – Der Befreier" feuert. Unterlegt ist dieser Szene rückwärts ablaufendes Archivmaterial vom Jubel um Hitler und seinem Aufstieg, bis zu einem Kinderfoto Hitlers mit seiner Mutter. Erst hier stoppt Florja mit den Schüssen und scheint sich – ebenso wie der Zuschauer – zu fragen, wo das Böse herkommt oder beginnt.


Mit klassischen Kriegsfilmen ist "Komm und sieh", dessen Titel ein Zitat aus der Apokalypse des Johannes ist, nicht zu vergleichen, denn weder gibt es Kampfszenen noch den geringsten Anflug von Heldentum. Florja wirkt hier wie ein Katalysator, durch den Klimov den Zuschauer in diese Hölle blicken lässt. Immer wieder versetzt der 2003 verstorbene russische Regisseur durch lange subjektive Kamerafahrten oder durch Aussetzen des Tones bei Florjas Tinnitus nach einer Bombendetonation den Zuschauer in die Perspektive des Jungen, lässt ihn seine Erfahrungen und Gefühle hautnah nacherleben.


Nie kommt hier die Gefahr der Verharmlosung des Krieges auf, gleichzeitig macht diese Schonungslosigkeit "Komm und sieh" freilich auch zu einem Film, der nur schwer zu ertragen ist und lange nachwirkt. Und so konkret er auch historisch verankert ist, so zeitlos ist er doch in seiner kompromisslosen Verurteilung des Kriegs als Zerstörer jeder Menschlichkeit.


An Sprachversionen bieten die bei Bildstörung in einem Schuber erschienene Doppel-DVD plus Blu-ray die russische Originalfassung, zu der deutsche Untertitel zugeschaltet werden können. Die Extras umfassen einen Audiokommentar von Barbara Wurm und dem Filmkritiker Olaf Möller sowie den Kinotrailer. Dazu kommen auf der zweiten DVD – jeweils deutsch untertitelt - eine 50-minütige Dokumentation über Elem Klimov, drei sowjetische Kurzfilme über den deutschen Vernichtungskrieg in Weißrussland sowie Interviews mit Klimov, dem Hauptdarsteller Aleksei Krawatschenko, dem Set Designer Viktor Petrov und dem Regieassistenten Wladimir Kozlov. Weiters analysieren der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger und Michael Kosakowski in einem rund 30-minütigen Videoessay den Film, den Stiglegger zusätzlich noch im Booklet in einem ausführlichen Essay analysiert.


Trailer zu "Komm und sieh"




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