Boris Lojkine folgt in seinem Spielfilm hautnah einem Flüchtling aus Guinea, der versucht als Fahrradkurier in Paris Geld zu verdienen, um die Unterlagen für das anstehende Asylverfahren bezahlen zu können: Ein Sozialdrama als atemloser Thriller, der einen ebenso fesselnden wie bewegenden, quasidokumentarischen Einblick in den täglichen Überlebenskampf von Flüchtlingen bietet.
Stille umgibt den 23-jährigen aus Guinea stammenden Souleymane (Abou Sangare) in der ersten Einstellung, obwohl er bei der Asylbehörde inmitten einer Menschenmasse steht. Schon hier prägt sich das Gesicht des Laiendarstellers Abou Sangare ein, der mit 16 Jahren selbst als Flüchtling nach Paris kam und nun für seine erste Filmrolle in Cannes in der Sektion "Un certain regard" als bester Darsteller ausgezeichnet wurde.
Nicht nur ungemein authentisch, sondern auch mit spürbarer Leidenschaft und gespeist von persönlichen Erfahrungen spielt Sangare diesen Souleymane. Von der Auftaktszene in der OFPRA, dem Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen, blendet Boris Lojkine mit dem Titelinsert 48 Stunden zurück und folgt dem Protagonisten durch seinen bedrückenden Alltag. Erst am Ende wird die Handlung zur Behörde zurückkehren und in die Befragung münden, auf deren Basis über Zuerkennung von Asyl oder Abschiebung entschieden wird.
Hautnah folgt die Kamera von Tristan Galand Souleymane bei seinen Fahrten als Fahrradkurier durchs nächtliche Paris. Mal ist sie in seinem Rücken, dann wieder vor ihm, nur zur Ruhe kommt sie so wenig wie der Flüchtling selbst. Parallel zur Zustellung von Speisen muss Souleymane dabei sich auch noch die Flüchtlingsgeschichte einprägen, die ihm ein anderer Asylant verkauft hat.
In diesem Narrativ inszeniert sich der junge Mann als politischer Flüchtling, der in seiner Heimat im Gefängnis saß. In Wahrheit war er in Guinea aber ein unpolitischer Mechaniker, der aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa floh. Die Wertung, ob diese Lügen legitim sind, um eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, überlässt Boris Lojkine den Zuschauer:innen, weckt aber auch durch die Nähe der Kamera durchgängig Empathie für den gestressten jungen Mann.
Weil er offiziell als Asylanwärter nicht arbeiten darf, muss er seine Aufträge als Fahrradkurier über das Handy eines Flüchtlings mit Aufenthaltsbewilligung abwickeln. Doch bald wird sichtbar, dass dieser scheinbare Freund und Gönner ihn ausbeutet. Aber auch Schikanen eines Restaurantbesitzers, der ihn lange auf die Lieferung warten lässt, oder von Kund:innen muss er hinnehmen. Immer schwingt dabei die Angst vor Beschwerden bei den Vorgesetzten mit, die ihn wiederum den Job kosten könnten. Stets steht er aber auch unter Zeitdruck, sodass es in der Hektik auch zu einem kleinen Unfall kommt, der ihn aber nicht an der Fortsetzung der Arbeit hindert.
Hat er diese beendet muss er per Metro zu einem Bus eilen, mit dem er zu einem Obdachlosenheim fahren kann, in dem er eine warme Mahlzeit erhält, sich duschen und in einem Schlafsaal übernachten kann. Frühmorgens greift er im Bett schon wieder zum Smartphone, um die Unterkunft für die nächste Nacht zu reservieren.
Ständig unter Strom steht Souleymane und wie in den Filmen der Dardenne-Brüder oder in Eric Gravels "À plein temps - Julie: Eine Frau gibt nicht auf" überträgt sich diese Anspannung und dieser Stress durch die dynamische und ungeschönte Inszenierung direkt auf die Zuschauer:innen. Wie ein atemloser Thriller kommt so dieses Sozialdrama daher. Keine Zeit für einen Blick auf die Sehenswürdigkeiten von Paris gibt es hier und die Dominanz von kalten Blautönen und Neonlicht sorgen in dem großteils bei Nacht spielenden Film für eine ungeschminkt-authentische und kalte Atmosphäre.
Dichte gewinnt "L´histoire de Souleymane" aber auch durch die – abgesehen von Nina Meurisse als Beamtin – weitgehende Arbeit mit Laienschauspieler:innen. Auch der völlige Verzicht auf Filmmusik und der Dreh an Originalschauplätzen trägt wesentlich zur quasidokumentarischen Qualität bei. Selten wurde wohl in einem Spielfilm so unmittelbar und bewegend Einblick in den Alltag eines Asylanten geboten.
Solidarität gibt es selbst unter den Migrant:innen kaum. Vielmehr versuchen die schon länger Ansässigen die Neuankömmlinge auszubeuten und betrügen sie teilweise auch. Immer wieder geht es ums Geld von der Abwicklung der Aufträge als Essenskurier bis zur Bezahlung der anderen Asylanten fürs Coaching für die Befragung vor der Behörde oder für die Vermittlung des Jobs als Fahrradkurier.
Ruhiger wird der Film erst bei der Befragung. Wie Souleymane zuvor in Telefonaten mit seiner Mutter oder seiner Freundin bruchstückhaft Einblick in seine Biographie geboten hat, so zeichnet er nun ein Bild der Fluchterfahrungen. Zu Tränen rühren kann er dabei, wenn er auf Druck der Beamtin von der zunächst heruntergeratterten vorgefertigten Geschichte abweicht und über seine wahren Gefühle und seine tatsächliche Motivation für die Flucht erzählt.
Die Frage, ob dieser junge Mann Asyl in Frankreich erhalten soll oder nicht, leitet Lojkine mit seinem offenen Schluss dabei geschickt an die Zuschauer:innen weiter. So wird man gezwungen, sich über das Filmende hinaus mit dem dicht geschilderten Alltag und vor allem mit der Entscheidung über das Asyl auseinanderzusetzen.
L´Histoire de Souleymane – Souleymanes Geschichte
Frankreich 2024 Regie: Boris Lojkine mit: Abou Sangare, Nina Meurisse, Alpha Oumar Sow, Emmanuel Yovanie, Younoussa Diallo Länge: 93 min.
Läuft jetzt in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen. - Ab 28.2. in den österreichischen Kinos.
Trailer zu "L´Histoire de Souleymane - Souleymanes Geschichte"
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