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AutorenbildWalter Gasperi

L´immensità – Meine fantastische Mutter


Emanuele Crialese erzählt in seinem in den 1970er Jahren spielenden Melodram bewegend nicht nur von einer Römerin, die in der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft keine Luft zum Atmen erhält, sondern auch von der Suche der 12-jährigen Tochter nach Geschlechtsidentität.


Rom in den 1970er Jahren: In kräftigen Farben erstrahlt die moderne römische Wohnung, in die die fünfköpfige Familie Borghetti vor kurzem eingezogen ist. Doch Lebensfreude breitet sich nicht aus, sondern Entfremdung zwischen den Eltern wird beim Abendessen spürbar. Der Blick der spanischstämmigen Mutter Clara (Penélope Cruz) ist immer wieder sehr ernst und traurig.


Aus der Perspektive ihrer etwa 12-jährigen Tochter Adriana (Luana Giuliani) blickt die Kamera von Gergely Pohárnok auf die Mittvierzigerin. Hautnah ist sie an ihr dran, bietet in Detailaufnahmen der Augenpartie und der Wimpern keinen Überblick, stellt damit aber ein Nahverhältnis zwischen Tochter und Mutter her. Am Rand bleiben dagegen die beiden jüngeren Kinder Gino und Diana.


Clara schminkt sich zwar, geht aber nicht aus. Der Hausfrauenalltag frustriert sie ebenso wie die Gefühlskälte ihres Mannes Felice (Vincenzo Amato), der nicht nur femdgeht, sondern sie auch zum Sex zwingen will. Befreien kann sich Clara aus dieser miefigen Enge nur, wenn sie Schallplatten auflegt und im Wohnzimmer mit ihren drei Kindern zu zeitgenössischen Hits ausgelassen tanzt, im Kino in die Traumwelt von "Doktor Schiwago" oder im Schwarzweißfernsehen in TV-Shows abtaucht.


Auch der Sommerurlaub am Meer mit der Familie ihres Mannes bringt da keine Entspannung, sondern weitet nur das Bild einer engen bürgerlichen Gesellschaft, in der die Männer den Ton angeben und die Frauen keinen Freiraum haben.


Doch dieses Porträt der von Penélope Cruz vielschichtig gespielten Frau, die an den gesellschaftlichen Bedingungen zu zerbrechen droht, ist nur eine Seite von Emanuele Crialeses erstem Spielfilm seit elf Jahren. Denn der 58-jährige Italiener, der schon in seinem zweiten Spielfilm "Lampedusa" (2002) ein vielbeachtetes Porträt einer labilen Frau zeichnete und um den es nach seinem Auswandererdrama "Golden Door" (2006) still wurde, erzählt parallel dazu von der Suche der Tochter Adriana nach sexueller Identität.


Zunehmend fühlt dieses Mädchen nämlich, dass sie im Grunde ein Junge ist und glaubt von Außenirdischen gezeugt worden zu sein. Während ihre Zerrissenheit vom Vater und dessen Familie weitgehend ignoriert wird, zeigt die Mutter Verständnis dafür und gibt ihrem Kind die nötige Zuneigung und den Freiraum.


Nachvollziehbar wird die Zerrissenheit Adrianas für die Zuschauer:innen allein schon dadurch, dass der von Luana Giuliani ebenso natürlich wie berührend gespielte Teenager, vom Aussehen her geschlechtlich schwer zuordenbar ist. Auch eine Ärztin wird ihn einmal als Junge bezeichnen. So kann sich Adriana auch in einer nahen Roma-Siedlung, in der sie in der gleichaltrigen Sara eine Freundin findet, problemlos als Junge ausgeben.


Doch wie die Roma in dieser 1970-er Jahre Gesellschaft nicht geduldet werden, so wird auch Adrianas Identitätssuche nicht akzeptiert und die Mutter wird mit ihren Wünschen – wie in "Lampedusa" - marginalisiert und schließlich hospitalisiert.


Mit der Verbindung der Geschichte der Mutter und Adrianas packt Crialese, der sich beim letzten Filmfestival von Venedig als Transmann outete, zwar etwas viel in seinen fünften Spielfilm, ist aber andererseits gerade mit der Thematik der jugendlichen Suche nach Geschlechtsidentität auf der Höhe der Zeit. Er weckt nicht nur Assoziationen an Céline Sciammas "Tomboy" (2011), sondern mehr noch an Estibaliz Urresola Solagurens bei der heurigen Berlinale preisgekrönten Debüts "20.000 Species of Bees" (2023).


Im Gegensatz zur Gegenwärtigkeit dieser Film steht aber das historische Setting von "L´immensità". Intensiv beschwört Crialese mit kräftigen Farben, Kleidern, Autos und Schwarzweißfernseher bis hin zu Trockenhauben beim Friseur die Stimmung der 1970er Jahre. Spürbar von persönlichen Erfahrungen geprägt ist sein Familienmelodram, das auch eine Liebeserklärung Adrianas an die Mutter und eine Abrechnung mit dem Vater ist, und durch die leidenschaftliche Parteinahme für die Mutter und die leidenden Kinder große emotionale Kraft entwickelt.



L´immensità – Meine fantastische Mutter Italien / Frankreich 2022 Regie: Emanuele Crialese mit: Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani, Patrizio Francioni, María Chiara Goretti, Penélope Nieto Conti, Alvia Reale, Länge: 97 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - Ab 28.7. in den österreichischen und deutschen Kinos.


Trailer zu "L´immensità - Meine fantastische Mutter"



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