Nüchtern, aber konzentriert und getragen von einer starken Anamaria Vartolomei in der Hauptrolle erzählt Audrey Diwan in ihrem mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichneten Drama von einer ungewollten Schwangerschaft im Frankreich der frühen 1960er Jahre und dem zunehmend verzweifelten Bemühen um eine illegale Abtreibung. So historisch das Setting ist, so zeitlos plädiert Diwan eindrücklich für das Recht der jungen Protagonistin – und damit der Frauen insgesamt - auf Selbstbestimmung.
Mit ihren Freundinnen zieht die 23-jährige Anne (Anamaria Vartolomei) im Frankreich des Jahres 1963 abends gerne durch die Bars. Aus einfachen Verhältnissen stammt sie, ihre Eltern betreiben eine Kneipe, doch sie studiert Literatur und erweist sich als interessierte und aufgeweckte Studentin. Ein Aufstieg aus dem Arbeitermilieu scheint damit möglich, doch dann stellt sie eines Tages fest, dass die Periode ausbleibt. Ihre Freundinnen wundern sich über ihre seltsamen Essgewohnheiten und ihre Mutter (Sandrine Bonnaire) macht sich Sorgen, weil sie so blass sei.
Ein Arztbesuch bringt die für Anne unangenehme Gewissheit, dass sie schwanger ist. Als Krankheit, die nur Frauen bekommen und sie zu Hausfrauen machen, wird sie dies später bezeichnen. Auch für sie ist klar, dass ein lediges Kind das Ende aller beruflichen Träume wäre. Später möchte sie durchaus einmal ein Kind, aber nicht akzeptieren kann sie, dass ein Kind nun den Verlauf ihres Lebens bestimmt und ihr ihre Lebensträume raubt.
So strebt sie einen Schwangerschaftsabbruch an, doch im Frankreich der 1960er Jahre ist dies verboten. Der erste Arzt, den sie konsultiert, erklärt, dass sie ihre Schwangerschaft eben akzeptieren müsse, der zweite gibt ihr ein Medikament, das angeblich zur Abtreibung führt, doch in Wahrheit den Embryo stärkt. Mit ihren Eltern kann sie nicht darüber reden, ihre Freundinnen vom Studium verweigern Unterstützung, da sie eine Haftstrafe fürchten, auch der Kindsvater will damit nichts zu tun haben.
Geradlinig, nüchtern und mit großer Stringenz zeichnet Audrey Diwan nach Annie Ernauxs 2000 erschienenem autobiographischen Roman "L´évènement" die Chronologie dieser verzweifelten Suche der jungen Frau nach Hilfe und der Unmöglichkeit mit Menschen über ihre schwierige Situation zu sprechen nach.
Konsequent aus der Perspektive Annes erzählt die 42-jährige Französin. In jeder Szene ist sie präsent. Hautnah folgt ihr die Schulterkamera von Laurent Tangy oft im Rücken. Großaufnahmen dominieren, dazu verstärkt die Wahl des engen 4:3-Formats sowie eine oft geringe Schärfentiefe, durch die der Hintergrund vielfach unscharf ist, die Fokussierung auf die ungewollt Schwangere.
Durch diese Konzentration auf Anne wird zudem die zeitliche und geographische Situierung sehr zurückgenommen und das Zeitlose und Universelle dieses Frauenschicksals wird betont. Nichts lenkt hier den Blick vom Wesentlichen ab und gleichzeitig vermitteln Inserts von der dritten bis zur zwölften Woche, die den Film gliedern, dass das Handeln immer dringlicher und schwieriger wird.
Auch die nur sehr reduziert eingesetzte Musik verstärkt mit wenigen, metallisch-kalten Klavieranschlägen das Gefühl von Enge und Ausweglosigkeit. Von Solidarität unter Frauen, die in Mahamat-Saleh Harouns Abtreibungsdrama "Lingui" eine zentrale Rolle spielt, ist hier nichts zu spüren, sondern ganz auf sich gestellt ist Anne. So erinnert "L´évènement" nicht nur im konsequenten Zugriff auf die Protagonistin, sondern auch im Kampf einer jungen Frau um ihr eigenes Leben an die frühen Filme der Dardenne-Brüder wie "Rosetta" oder "Das Schweigen der Lorna".
Andererseits unterscheidet sich Diwans zweiter Spielfilm aber durch die weitgehende Aussparung des gesellschaftlichen Umfelds von den Filmen der beiden Belgier. Nicht ein spezielles Milieu sorgt hier für die Malaise Annes, sondern die gesetzlichen Vorgaben. Deutlich macht Diwan dabei auch, wie die psychische Belastung verständlicherweise auch Annes Leistungen beim Studium zunehmend beeinflussen und sie Gefahr läuft durchzufallen.
Einiges mutet Diwan dabei dem Publikum zu, wenn Anne selbst mit einer langen Stricknadel die Abtreibung durchführen will oder sie später in einer langen Einstellung akribisch den Eingriff einer Engelmacherin schildert. Fast physisch kann man hier den Schmerz spüren. Schocken kann aber auch die Szene, in der schließlich die Nabelschnur durchgetrennt werden muss. Befreiung gibt es hier erst am Ende, wenn Anne wieder der Weg in die Zukunft offen zu stehen scheint.
Im Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung steht L´évènement" so in der der Tradition von Abtreibungsdramen wie Cristian Mungius "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" oder Eliza Hittmans "Never Rarely Sometimes Always". Doch während Mungiu aus seiner Geschichte heraus eine beklemmende Schilderung des Rumäniens der 1980er Jahre und Hittman auch eine Abrechnung mit männlichen Übergriffen entwickeln, geht es hier einzig um Annes Weg.
Das ist nicht zuletzt dank der famosen Anamaria Vartolomei in der Hauptrolle ein packendes und bewegendes Drama, das engagiert Position bezieht, doch gleichzeitig fehlen dem bei den letztjährigen Filmfestspielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Film fast zwangsläufig aufgrund seiner nüchtern-realistischen Schilderung und der Engführung der Handlung jedes Geheimnis und Ambivalenzen.
L´évènement – Das Ereignis Frankreich 2021 Regie: Audrey Diwan mit: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquéro, Louise Chevillotte, Pio Marmaï, Sandrine Bonnaire, Leonor Oberson Länge: 100 min.
Läuft in den österreichischen und deutschen Kinos und ab 24.3. in den Schweizer Kinos.
TaSKino Feldkirch im Kino Rio: 18.3. - 22.3.
Kinok St. Gallen: ab 26.3.
Trailer zu "L´évènement - Das Ereignis"
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