Der Mexikaner Alonso Ruizpalacios taucht in die multikulturelle Großküche eines New Yorker Restaurants ein: Kein kulinarisches Kino, sondern die elektrisierende Auslotung von brodelnden sozialen und ethnischen Spannungen.
Wie schon das Vorspanninsert aus Henry David Thoreaus 1863 erschienenem Essay "Life without Principle" ahnen lässt, geht es in "La Cocina" nicht um die hohe Kunst des Kochens, sondern um eine Restaurantküche als ein Ort des Geschäfts und des hektischen Treibens. Inspiriert von eigenen Erfahrungen als Kellner und Tellerwäscher im Rainforest Cafe in der Londoner Innenstadt während seiner Studienzeit wirft der Mexikaner Alonso Ruizpalacios die Zuschauer:innen dabei in dieser freien Verfilmung von Arnold Weskers 1959 uraufgeführtem Theaterstück "The Kitchen" in eine Großküche am New Yorker Times Square.
In fragmentierten und ruckeligen Schwarzweißbildern vermittelt Ruizpalacios in seinem ersten außerhalb Mexikos entstandenen Film den Blick der jungen Mexikanerin Estela (Anna Díaz) auf New York. Mit Schiff und U-Bahn nähert sie sich ihrem Ziel. Ohne Englischkenntnisse muss sie sich mühsam zum Times Square durchfragen, wo ihr der ebenfalls aus Mexiko stammende Pedro (Raúl Briones) einen Job in der Küche des Restaurants "The Grill" verschaffen soll.
Die Trennung in Gäste und arbeitende Belegschaft wird dabei schon deutlich, wenn die Migrantin nicht durch das Lokal eintreten darf, sondern den Hintereingang benutzen muss. Nur durch eine Verwechslung bekommt sie sogleich den Job in der Küche, über den sie auch hofft im Lauf der Zeit eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen.
Scheint damit Estela als Protagonistin eingeführt zu werden, tritt sie rasch in den Hintergrund und ins Zentrum rückt Pedro, der schon mehrere Jahre in "The Grill" arbeitet. Immer noch hat dieser aber keine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung, hofft diese nun aber über seine Beziehung zu der von ihm schwangeren amerikanischen Kellnerin Julia (Rooney Mara) zu bekommen.
Julia möchte aber eine Abtreibung durchführen, von der sie Pedro aber abhalten will. Dennoch gibt er ihr das für den Eingriff nötige Geld. Gleichzeitig fehlt in der Restaurant-Kasse aber in etwa der gleiche Betrag aus den Einnahmen vom Vortag. So lässt der Restaurantbesitzer seinen Manager Luis (Eduardo Olmos) Befragungen durchführen, um den Dieb ausfindig zu machen.
Diese Recherche bringt den Gegensatz zwischen Führungsetage und Niedriglohnarbeiter:innen in Küche und Service ins Spiel. Auch der Besitzer scheint mit dem Namen Rashid (Oded Fehr) ein Immigrant zu sein und auch sein Manager ist kein gebürtiger Amerikaner, dennoch stehen sie ebenso wie der Küchenchef auf der anderen Seite, erteilen Befehle und beuten die Immigrant:innen aus, stehen aber auch selbst unter Druck, um das Restaurant am Laufen zu halten.
Gleichzeitig brodelt es aber auch innerhalb der multikulturellen Belegschaft. Da krachen immer wieder der impulsive Pedro und der für Steaks und Burger zuständige Amerikaner Max (Spenser Granese) aufeinander und auch Spannungen zwischen den Köchen und den Kellnerinnen, die auf rasche Ausgabe der Speisen drängen, werden sichtbar.
Über beinahe 140 Minuten bleibt die in starken Schwarzweißbildern und im engen 4:3 Format gedrehte Tragikomödie fast ausschließlich in der Großküche. Mal folgt die Kamera von Juan Pablo Ramírez in dynamischer Fahrt hautnah dem Personal durch die Gänge, dann gleitet sie in Parallelfahrt an der Kochschiene entlang von Burger- über Pizzabereich und Pastazone bis zur Abteilung für Chicken Masala, für das Pedro und Estela zuständig sind, und erlaubt diesen Ausgebeuteten dazwischen auch in langen statischen Einstellungen Momente der Ruhe.
Da streiten sich bald Pedro und Julia in den Gängen, lieben sich dann aber doch wieder im Kühlraum. In der Pause wiederum erzählen einige von ihnen in einem Hinterhof bei einer Zigarette von ihren Träumen, auch wenn sie teilweise aufgrund fehlender Sprachkenntnisse gar nicht verstehen, was der andere erzählt.
Zeit in Ruhe und mit Liebe die Speisen zuzubereiten, wie dies in Trần Anh Hùngs "La Passion de Dodin Bouffant" ("Geliebte Köchin", 2023) oder Frederic Wisemans Dokumentarfilm "Menus plaisirs – Les Troisgros" (2023) gezeigt wird, bleibt freilich nicht, denn schnell muss alles gehen. Kein kulinarisches Kino wird so geboten, das Gaumenfreuden weckt, sondern eher lässt dieser Film den nächsten Restaurantbesuch aufschieben.
Alles andere als Delikatessen werden nämlich fabriziert und serviert, auch wenn Pedro zweimal beweist, dass er dazu durchaus in der Läge wäre. Kein Wunder ist es so auch, dass die Kellnerinnen immer wieder mit halbvollen Tellern oder Klagen der Gäste über eine halbgare Pizza oder auch über zu lange Wartezeiten aus dem Gastraum zurückkehren.
Ungemein energetisch ist die Inszenierung und erreicht ihren Höhepunkt in einer fulminanten Plansequenz etwa in der Mitte des Films, bei der die Kamera den Kellnerinnen von der Küche ins Lokal und wieder zurück folgt und auch zwischen den Figuren wechselt. Intensiv evoziert Ruizpalacios mit diesem zupackenden Stil, mit Rhythmuswechseln und starkem Sounddesign die hektische und gestresste Stimmung in dieser Großküche, verliert allerdings auch immer wieder seine Figuren aus den Augen.
Da verschwindet nicht nur Estela bald praktisch ganz aus dem Film, sondern mit Ausnahme von Pedro und Julia gewinnen auch die anderen Küchen- und Serviceangestellten kaum Profil. Als mitreißende Milieustudie, die mit Fokussierung auf das Restaurant auch eindrücklich von sozialen und ethnischen Spannungen erzählt, funktioniert "La Cocina" aber dennoch.
Packend zeigt Ruizpalacios nämlich auf, dass es nicht nur Spannungen zwischen ausgebeuteten Niedriglohnkräften und der Führungsschicht gibt, sondern dass es auch unter dem Küchenpersonal kaum Solidarität gibt, sondern illegale Immigrant:innen und einheimische Arbeitskräfte in einem explosiven Konkurrenzverhältnis stehen.
La Cocina
Mexiko / USA 2024 Regie: Alonso Ruizpalacios mit: Rooney Mara, Raúl Briones, Anna Díaz, Motell Gyn Foster, Laura Gómez, Oded Fehr, Eduardo Olmos Länge: 139 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen. - ab 17.1. in den österreichischen und deutschen Kinos.
Trailer zu "La Cocina - Der Geschmack des Lebens"
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