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AutorenbildWalter Gasperi

Les Magnétiques – Die Magnetischen


Eine Jugend in der tristen französischen Provinz der frühen 1980er Jahre zwischen Stillstand und Aufbruchsstimmung. – Mit seinem preisgekrönten Debüt gelang Vincent Maël Cardona mit unverbrauchten Schauspieler*innen und einem fulminanten Post Punk-Soundtrack ein atmosphärisch dichtes Zeitporträt und eine starke Coming-of-Age-Geschichte.


Vincent Maël Cardona evoziert in seinem unter anderem mit dem César als bestes französisches Debüt ausgezeichneten Spielfilm mit einer Genauigkeit und Stimmigkeit in Ausstattung und Kostümen die Atmosphäre der frühen 1980er Jahre, dass man das Gefühl hat, dass er hier eigene Erfahrungen verarbeitet. Dies freilich ist nicht möglich, ist der Regisseur selbst doch erst 1980 geboren.


Dokumentarischen Charakter und Nähe zu den Figuren erzeugt Cardona am Beginn mit schwarzweißen Szenen vom Jubel der Clique um den schüchternen Philippe (Thimotée Robart) über den Wahlsieg des Sozialisten François Mitterrand über seinen konservativen Gegenkandidaten Giscard d´Estaing bei der Wahl des französischen Präsidenten am 10. Mai 1981. Dieser Aufbruchsstimmung, in die Philippe, der sich als Anhänger Giscard d´Estaings bekennt, nicht einstimmt, steht aber schon der Kommentar gegenüber, dass am folgenden Tag die Reggae-Legende Bob Marley starb.


So bewegt sich "Les Magnétiques" von Anfang an und durchgängig zwischen den Polen Aufbruch und Resignation, zwischen Lebensfreude und Melancholie. Erzählt wird dabei aus der Perspektive Philippes, der die Geschichte retrospektiv erzählt und im Voice-over mit einem Brief an seinen älteren Bruder Jérôme (Joesph Olivennes) durch den Film führt.


An die Stelle von Schwarzweiß tritt Farbe, wenn die beiden Brüder bei ihrem kleinen Piratensender Musik machen. Nach der ersten Band des kurz vor Einsetzen der Filmhandlung verstorbenen Joy Division Sänger Ian Curtis gaben sie ihrem Sender den Namen "Radio Warschau". Der extrovertierte Jérôme moderiert hier, der Tüftler Philippe dagegen steht an den Reglern, lässt Songs sich überlappen und produziert Endlosschleifen.


Mitreißend beschwört Cardona das Haptische dieser analogen Zeiten, in denen mit Bändern, Kassetten und Schallplatten gearbeitet, einfallsreich an Reglern gespielt und Alltagsgeräusche ebenso wie Tonstörungen in die Musik einbezogen wurden. Dabei ist mit dem Post Punk von Joy Division, The Undertones, Gang of Four und Iggy Pop in dieser Zeit auch ein neuer Musikstil angesagt.


Im Kontrast zu dieser pulsierenden Musik steht aber wiederum der Stillstand im ländlichen Frankreich. Mit grobkörnigen Bildern, dunklen und verwaschenen Farben und tristen Settings beschwört Kameramann Brice Pancot. dicht diese Öde und Perspektivelosigkeit. Während der impulsive Jérôme immer wieder gegen den Vater rebelliert, will Philippe vor allem bei der Musterung erreichen, dass er untauglich geschrieben wird.


Eine herrlich tragikomische Szene gelingt Cardona hier bei der Schilderung des Scheiterns dieses Versuchs. Immerhin kommt Philippe so weg von der französischen Provinz und wird nach West-Berlin versetzt. Wieder prallen hier öder Alltag und Lebenslust aufeinander, wenn er beim Tischdienst im Speisesaal eine Kassette der jungen Mutter Marianne (Marie Colomb) hört, in die sich sowohl sein Bruder als auch er verliebt haben. Ausgelassen tanzt er zum Song auf den Tischen, blendet seine Arbeit für Minuten völlig aus.


Mariannes auf die Kassette gesprochene Botschaft verlangt freilich nach einer Antwort. Doch als er über den Militärsender BFBS – den British Forces Broadcasting-Service - ihr seine Liebe gestehen will, bringt er kein Wort heraus, mixt dafür in einer furiosen Szene Songs mittels Endlosschleifen und Geräuschen zu einer fulminanten Musikszene.


So erzählt Cardona auch von einem Coming-of-Age, bei dem die Musik zur Sprache des introvertierten Philippe wird. Während Jérôme bei aller Wut letztlich nicht wegkommt aus seinem Milieu, steht für Philippe am Ende ein Aufbruch. So konkret verankert dieses pulsierende und atmosphärisch dichte Zeitporträt so einerseits ist, so universell und zeitlos ist es im Blick auf Coming-of-Age und Selbstfindung andererseits und entwickelt zumal mit den dramatischen Ereignissen im Finale auch große emotionale Kraft.


Denn nicht nur der vom 1997 geborenen Thimotée Robart mit Leidenschaft gespielte und als Ich-Erzähler den Film dominierende Philippe berührt hier, sondern dank ihrer Unverbrauchtheit auch Marie Colomb als Marianne und Joseph Olivennes als Jérôme. Das sind eben keine glatten Filmfiguren, sondern Charaktere, die auch durch die Einbettung in das authentisch eingefangene Milieu, lebensnah und echt wirken: Ein kraftvolles Debüt, das Interesse für die weitere Karriere des 42-jährigen Regisseurs weckt.



Les Magnétiques – Die Magnetischen Frankreich / Deutschland 2021 Regie: Vincent Maël Cardona mit: Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes, Fabrice Adde, Louise Anselme, Younes Boucif, Maxence Tual Länge: 98 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Les Magnétiques - Die Magnetischen"


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