Unaufdringlich, aber bewegend und universell erzählt die Brasilianerin Beatriz Seigner anhand einer Mutter, die vor den bewaffneten Konflikten in ihrer Heimat Kolumbien mit ihren beiden Kindern auf eine Insel im Grenzgebiet zwischen Brasilien, Peru und Kolumbien flieht, von Entwurzelung, Verlust und Trauma und fragt nach der Möglichkeit der Versöhnung.
Nur einzelne Lichtpunkte erhellen das Dunkel, während ein Boot durch einen nächtlichen Fluss gleitet. Naturgeräusche des Flusses und der Tiere verstärken die unheimliche Atmosphäre, bis das Boot ans Ufer schlägt und die Mutter Amparo (Marleyda Soto) mit ihrem neunjährigen Sohn Fabio und ihrer zwölfjährigen Tochter Nuria von ihrer Tante empfangen wird.
Bald machen im Hintergrund laufende Nachrichten klar, dass die Familie vor dem blutigen Konflikt zwischen dem kolumbianischen Staat, Paramilitärs und den Guerillas, denen sich Amparos Mann Adam angeschlossen hat, geflohen ist. Fünf Millionen Vertriebene und 220.000 Tote hat dieser Konflikt in den letzten 50 Jahren gefordert. Nun – im Jahr 2016 – sind Friedensverhandlungen im Gange, doch Adam wird vermisst und ist wohl zusammen mit der zweiten Tochter in den Auseinandersetzungen umgekommen.
In ruhigen, weitgehend statischen Einstellungen schildert Beatriz Seigner die Formalitäten bei der Aufnahme als Flüchtling, die Vorlage von Dokumenten und eines Videos, die ihre Verfolgung belegen, in einer kirchlichen Stelle. Seigner dramatisiert nicht, bauscht nicht auf, sondern vertraut in ihrem zweiten Spielfilm, der großteils mit Laien besetzt ist, die eigene Erfahrungen von Krieg und Vertreibung mit einbringen, auf die Kraft der Gesichter und der Schicksale.
Zurückhaltend spielen auch die beiden professionellen Schauspieler. Eindrücklich vermittelt Marleyda Soto die Belastung, die Trauer und den Schmerz Amparos, noch mehr zurücknehmen wird sich Enrique Diaz in der Rolle des bald auftauchenden Adam.
Fest verankert auf der im Amazonas gelegenen – real existierenden - Isla de la Fantasia ist „Los Silencios“ einerseits, erzählt andererseits aber auch universell vom Flüchtlingsschicksal. Nur schwer bekommt Amparo einen Job in einer Fischfabrik, die Schuluniform für Sohn Fabio muss sie selbst nähen, da es an Geld fehlt.
Gleichzeitig bekommt man aber auch einen Eindruck, wie die Gentrifizierung auch vor dieser Insel, auf der es noch keine Elektrizität zu geben scheint, nicht Halt macht, wenn der Bürgermeister bei einer Sitzung berichtet, dass ein reicher Investor gerne ein Casino errichten und den Einheimischen Haus und Land abkaufen möchte. Deutlich wird dabei auch, wie dieses Ereignis die Bewohner spaltet, die einen nur das Geld sehen, das winkt, den anderen ihr Zuhause und ihre Landwirtschaft wichtiger ist.
Amparo hat aber auch mit anderen Problemen zu kämpfen. Einerseits gibt es ständig Konflikte mit dem kleinen Fabio, der sich über alles beklagt und lieber arbeiten als in die Schule gehen will, andererseits fordert der Anwalt Geld, wenn er die Suche nach dem vermutlich ermordeten Mann fortsetzen soll. Weil Amparo aber Geld braucht, scheint ihr keine andere Möglichkeit zu bleiben als das Angebot des Anwalts, ihm die Klage zu verkaufen, anzunehmen. Sie soll vorab einen Fixbetrag erhalten, er darf dafür bei Fund der Leiche die zu erwartende hohe Entschädigung einstreichen.
So realistisch dieses Drama, das mit bestechenden Cinemascope-Bildern und einer starken Tonkulisse, die von Naturgeräuschen der Tierwelt und des Flusses gebildet wird, eine dichte Atmosphäre entwickelt, auf der einen Seite erzählt wird, so sehr mischt sich zunehmend auch Magisches in die Handlung. Denn der vermisste Vater erscheint bald der Tochter in einem Schuppen und sitzt später auch mit der Familie am Essenstisch. Wird er zunächst nur präsent sein, aber nichts sagen, wird er schließlich auch Amparo beim Kochen helfen und auf eine ihrer Fragen antworten.
Wie in den Filmen des Thailänders Apichatpong Weerasethakul, im Speziellen in „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“, sind auch hier die Toten direkt unter den Lebenden und die Grenzen zwischen den Welten verschwimmen. Bewusst macht diese Präsenz die Sehnsucht der Hinterbliebenen nach den Getöteten, den Schmerz über den Verlust und die Lücke, die diese hinterlassen haben.
Hier wird dann auch in einer Sitzung der Gemeinde, in der wieder die Toten direkt unter den Lebenden sind und mit fluoreszierenden Gewändern und Körperbemalungen herausstechen, die Frage aufgeworfen, ob denn Versöhnung zwischen den Fronten möglich sei und ob man die Verbrechen verzeihen könne. Dabei verschwimmen auch die Zeiten, denn nicht nur Opfer des aktuellen Konflikts treten hier auf, sondern die Präsenz von Angehörigen der indigenen Bevölkerung erinnert auch an die jahrhundertelange Verfolgung und Unterdrückung dieser Gruppe.
Unmissverständlich zeigt Seigner dabei aber, dass ein Neubeginn nur möglich ist, wenn dieses Verzeihen gelingt und versöhnlich endet ihr bewegender Film mit einem lange nachwirkenden Abschied von den Toten, mit dem auch stimmig der Kreis zur nächtlichen Ankunft auf dem Fluss geschlossen wird.
Läuft derzeit im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Los silencios"
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