In Adam Elliots Stop-Motion-Animationsfilm erzählt eine Außenseiterin ihr von vielen Schicksalsschlägen bestimmtes Leben: Ein zum Schreien komischer, von schwarzem Humor durchzogener und gleichzeitig tieftrauriger Film über die bitteren Seiten des doch so schönen Lebens.
2004 gewann der Australier Adam Elliot mit seinem 23-minütigen Stop-Motion-Animationsfilm "Harvie Krumpet" (2003) einen Oscar für den besten animierten Kurzfilm. Im Mittelpunkt stand ein am Tourette-Syndrom leidender Pole, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs vor den Nazis aus seiner Heimat nach Australien flieht und trotz vieler Unglücksfälle seine Lebensfreude nicht verliert.
Sechs Jahre später begeisterte Elliot mit "Mary and Max" (2009), in dem er von einem einsamen australischen Mädchen erzählte, das eine Brieffreundschaft mit einem nicht weniger isolierten älteren New Yorker, der am Asperger-Syndrom leidet, beginnt.
Außenseiter und die bitteren Seiten des Lebens, dessen kleinen Freuden gleichwohl immer gefeiert werden, haben es dem 1972 geborenen Regisseur ganz offensichtlich angetan. Acht Jahre arbeitete er so auch an "Memoir of a Snail", im dem er seine etwa 40-jährige Protagonistin Grace Pudel nach dem Tod ihrer exzentrischen 80-jährigen Freundin Pinky ihr Leben erzählen lässt.
Wenn die Kamera durch die mit Schneckenbildern und -figuren, Packungen mit Schneckengift, Büchern und lebenden Schnecken vollgestopfte Wohnung Graces gleitet, bekommt man schon einen Eindruck von diesem Messie, der sich von der Welt zurückgezogen hat und nur in Pinky eine Freundin gefunden hat. Kein Wunder ist es, dass sie in Schnecken, die sich in ihr Haus zurückziehen können, Seelenverwandte sieht.
Witzig und gleichzeitig tieftraurig ist schon die Sterbeszene Pinkys. Meint man, dass die alte Frau ihre Augen schon für immer geschlossen hat, so wacht sie doch nochmals kurz auf, um mit dem Wort "Kartoffeln" der ihre Hand haltenden Grace ein Rätsel zu hinterlassen.
Begeisternd ist auch schon in dieser Szene, wie es Elliot gelingt, seinen mit viel Liebe zum Detail gestalteten Knetfiguren Leben einzuhauchen. Auf Anhieb muss man so Grace mit ihrem runden Kopf und ihren großen Augen, aus denen mehrfach fast noch größere Tränen kullern, ins Herz schließen.
Den Tod Pinkys nimmt sie zum Anlass ihre Schnecken in die Freiheit zu entlassen und ihrer Lieblingsschnecke, der sie nach Sylvia Plath, die die Lieblingsautorin ihrer Mutter war, den Namen Sylvia gegeben hat, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Statt Dialogen bestimmt so das Voice-over von Sarah Snook den Film und mit dieser Erzählerin kann Elliot meisterhaft die Handlung raffen und den Handlungsbogen über mehrere Jahrzehnte spannen.
Gleichzeitig wird "Memoir of a Snail" damit auch zu einem Film über das Erzählen an sich, denn neben Grace wird auch Pinky ihre Lebensgeschichte kurz erzählen, wird in Briefen Einblick in das Leben von Graces Bruder Gilbert gegeben werden und schließlich wird Graces Lebensgeschichte selbst Teil ihres eigenen Trickfilms werden.
Die Mischung aus bittersüßem, teils schwarzem Witz und Tragik setzt dabei schon mit der Geburt der Zwillinge Grace und Gilbert ein, die von der Mutter ins Leben ausgestoßen werden, während die Mutter selbst über die Anstrengung das irdische Leben verlässt. Schwierig war auch die Kindheit mit dem nach einem Verkehrsunfall querschnittgelähmten Vater, der zunehmend dem Alkohol verfiel, und mit Mobbing in der Schule.
Elliots Sinn fürs Schräge wie die Leseleidenschaft der Familie, die Klassiker von Steinbecks "Früchte des Zorns" und "Von Mäusen und Menschen" bis zu Kafkas "Der Hungerkünstler" ins Spiel bringt, Graces Strickmütze mit Schneckenfühlern oder Gilberts Begeisterung für Feuerwerkskörper sorgt aber durchgängig dafür, dass alles Tragische und Bittere durch Poesie aufgefangen, nicht aber verharmlost wird.
Dunkle Seiten von Elternschaft und Erziehung werden angesprochen, wenn die Zwillinge nach dem Tod des Vaters getrennt werden und Gilbert in einer christlich-fundamentalistischen Pflegefamilie gequält wird, während Grace bei einem Paar landet, das sich mehr für Swinger-Treffen als für ihre Pflegetochter interessiert.
Elliot macht keine niedlichen Filme für Kinder, sondern schreckt auch vor drastischen Szenen nicht zurück. Da geht es – wenn auch am Rande – verbal um Masturbation und Sex und auf der Bildebene werden blutige Unglücksfälle, aber auch sexuelle Ausbeutung nicht ausgespart.
So sehr "Memoir of a Snail" aber auch in die Abgründe des Lebens blickt, so sehr feiert dieses Meisterwerk des Animationsfilms das Leben doch auch, wenn Grace die exzentrische Pinky mit ihren vielfältigen Erfahrungen kennenlernt. Denn diese alte Frau muss zwar – wieder so ein wunderbar witziger und gleichzeitig trauriger Moment – erkennen, dass die Falten, die sie auf ihrer Strumpfhose straffziehen will, in Wahrheit die Falten ihrer Haut sind, doch wird sie Grace lehren zu leben.
Nicht nur Søren Kierkegaards Aussage, dass man das Leben oft nur rückwärts verstehen kann, aber immer nach vorne leben muss, wird sie ihrer Freundin mitgeben, sondern auch, dass das Leben ein wunderbar bunter Wandteppich ist, dazu aber nicht nur die von der Umwelt, sondern vor allem die selbst errichteten inneren Gefängnisse abgerissen werden müssen.
So ist "Memoir of a Snail" selbst so ein Wandteppich des Lebens. Denn einerseits kann dieser Film aufgrund seiner Erzählerin in 95 Minuten eine unglaubliche Fülle an Geschichten bieten, ohne je überladen zu wirken, andererseits schaffen es diese Geschichten bei allen bitteren Erfahrungen am Ende doch Lebensfreude und Hoffnung zu verbreiten. Mehr noch als durch den Inhalt gelingt das Elliot aber durch die Form von seinem Einfallsreichtum und seiner Detailfreude bis zu dem unendlich warmherzigen und liebevollen Blick auf die Figuren, deren Schicksal einem näher geht als das vieler von Schauspieler:innen gespielten Filmfiguren.
Memoir of a Snail
Australien 2024
Regie: Adam Elliot Animationsfilm Länge: 95 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen. - Ab 24.1. in den österreichischen und deutschen Kinos.
Trailer zu "Memoir of a Snail"
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