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AutorenbildWalter Gasperi

Memory

Während eine Mittvierzigerin traumatische Kindheitserlebnisse nicht vergessen kann, vergisst der an Demenz leidende Saul zunehmend Dinge: Ist dennoch eine Beziehung möglich? - Die Ausgangssituation von Michel Francos achtem Spielfilm klingt sehr konstruiert, doch mit zurückhaltender Inszenierung und den famosen Hauptdarsteller:innen Jessica Chastain und Peter Sarsgaard gelingt ihm ein intensives und vielschichtiges Drama.


Mit der schockierenden Dystopie „New Order – Die neue Weltordnung“ (2020) wurde der 1979 geborene Mexikaner Michel Franco vor vier Jahren international bekannt. Ein Jahr später ließ er diesem lauten und brutalen Film das leise Drama „Sundown – Geheimnissse in Acapulco“ (2021) folgen, in dem sich ein Brite während eines Urlaubs im mexikanischen Badeort zunehmend verliert.


An die Stelle des sonnigen Urlaubsparadieses tritt in „Memory“ das winterlich kalte New York. Keinen Überblick gewährt die Abfolge von Großaufnahmen von Menschen, die bei den Anonymen Alkoholiker:innen über ihre Sucht berichten. Gedankt wird der Hilfe der Mittvierzigerin Sylvia (Jessica Chastain), die auch dazu gehört und seit 13 Jahren trocken ist.


Sylvia arbeitet in einer Tagesbetreuung für psychisch kranke Erwachsene und lebt als alleinerziehende Mutter mit ihrer Teenager-Tochter Anna (Brooke Timber) in einer einfachen Wohnung. Angst scheint ihr Leben zu bestimmen, denn die Wohnungstür schließt sie immer mehrfach ab und vergisst nie die Alarmanlage einzuschalten. Niemanden scheint sie an sich herankommen zu lassen.


Zurückhaltend ist Franco mit Informationen. Nur mutmaßen kann man zunächst über ihr Verhältnis zu Olivia (Merritt Wever), erst langsam werden die familiären Beziehungen benannt. Nichts erfährt man über Sylvias früheren Beziehungen oder über den Verbleib von Annas Vater. Offen wird auch lange gelassen, wieso sie jeden Kontakt zu ihrer Mutter vermeidet.


Als ein einige Jahre älterer Mann bei einem Jahrestreffen ihrer High School Kontakt zu ihr herstellen will, flüchtet sie. Doch der Mann folgt ihr zur U-Bahn und bis zu ihrer Wohnung. Als dieser Saul Shapiro (Peter Sarsgaard) am nächsten Morgen durchfroren vor dem Wohnblock liegt, spricht Sylvia ihn an, kümmert sich um ihn und sorgt dafür, dass er von seinem Bruder Isaac (Josh Charles) abgeholt wird.


Isaac erklärt ihr, dass Saul an Demenz leide, immer wieder Dinge aus der jüngsten Vergangenheit vergesse, sich aber an Kindheit und Schulzeit gut erinnern könne. So besucht Sylvia Saul wieder, geht mit ihm spazieren, aber nur, um ihm vorzuwerfen, dass er während der High School mit einem Freund als 17-Jähriger die damals Zwölfjährige vergewaltigt habe. Doch Saul behauptet, sich nicht daran erinnern zu können, und bald entpuppt sich die Beschuldigung auch als Lüge.


Dennoch besucht Sylvia nun regelmäßig Saul, eine Beziehung entwickelt sich, doch Isaac will diese – angeblich zum Schutz Sauls – unterbinden. Auf der anderen Seite wird schließlich auch ein traumatisches Kindheitserlebnis Sylvias gelüftet.


Arg kitschig könnte „Memory“ sein, doch Franco inszeniert mit meisterlicher Zurückhaltung. Statt mit Großaufnahmen und schnellen Schnitten Emotionen zu schüren, verharrt die Kamera von Yves Cape meist in statischen Halbtotalen und fängt ruhig die langen Gespräche ein. Aber auch der Verzicht auf extradiegetische Filmmusik und die Licht- und Farbdramaturgie arbeiten einer Emotionalisierung entgegen.


Bestimmt nämlich am Anfang kalte Winterstimmung, die aber sehr dezent und nie aufdringlich evoziert wird, „Memory“ so werden Licht und Farben mit dem Wachsen der Beziehung langsam wärmer. Einprägsam ist so der erste Kuss auf einer Bank vor einem grün sprießenden Baum.


In der Konzentration auf die beiden Familien und getragen von den beiden famosen Hauptdarsteller:innen Jessica Chastain und Peter Sarsgaard lotet Franco intensiv die Charaktere und ihre Beziehungen aus. Während Saul seine fortschreitende Vergesslichkeit auch mit Witz nimmt, wird das Bild der das Leben prägenden Traumatisierung Sylvias, mit der „Memory“ an Thomas Vinterbergs „Das Fest“ anknüpft, sukzessive dichter und beklemmender.


Eindringlich vermittelt Jessica Chastain wie die 30 Jahre zurückliegenden kindlichen Erfahrungen ihr heutiges Verhalten prägen, wie sich die Angst in ihr eingenistet hat und wie sie in Sorge um ihre Tochter dieser fast jeden Freiraum verweigert.


Bestechend ist auch die Auslotung des Umgangs der Familien mit diesen angeschlagenen Angehörigen. Während Isaac seinen dementen Bruder von der Umwelt abschotten will und ihn entmündigt, verdrängen Sylvias Schwester und Mutter lieber die Vergangenheit als sie zu thematisieren.


Echte Empathie bringt den beiden Protagonist:innen gegenüber mit Sauls Nichte Sara (Elsie Fisher) und Sylvias Tochter nur die nächste Generation auf. Sie sorgen sich um das Wohl von Onkel und Mutter, werden auch aktiv. Da mag das Schlussbild auch nur eine Momentaufnahme oder ein Wunschtraum sein, so verbreitet „Memory“ im Gegensatz zu den bisherigen Filmen Francos doch ein bisschen Hoffnung auf eine positive Zukunft.

 


Memory USA / Mexiko 2023 Regie: Michel Franco mit: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Merritt Wever, Brooke Timber, Elsie Fisher, Jessica Harper, Josh Charles, Karen Roach, Brian Kelly, Anthony Aikens Länge: 104 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - ab 3.10. in den deutschen und ab 10.10. in den österreichischen Kinos.


Trailer zu "Memory"



 

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