Mano Khalil erzählt, von eigenen Kindheitserfahrungen inspiriert, bewegend und durch feinen Humor aufgelockert von einer Kindheit in Syrien, in dem der Lehrer versucht, die Schüler*innen zu strammen antisemitischen Nationalisten zu erziehen. – Ein rund erzählter, ruhiger und vom großartigen Sehed Khalil in der Hauptrolle getragener Spielfilm, der unaufgeregt, aber eindringlich für Toleranz und Freundlichkeit plädiert und Feindbildern und Hass eine Absage erteilt.
Die Suche einer internationalen Delegation nach einem syrischen Kurden in einem türkischen Flüchtlingslager löst beim Mittvierziger Sero eine Erinnerung an seine Kindheit aus. Der Sprung in die Totale, die einen Überblick über die Zeltlandschaft öffnet, macht das Ausmaß der Flüchtlingskatastrophe bewusst.
Heil war für Sero (Sehed Khalil) aber die Welt schon als Sechsjähriger in den frühen 1980er Jahren nicht. Sein Großvater kann zwar noch davon erzählen, dass dies einst ein freies Land war, doch nun zieht sich unmittelbar hinter seinem nordsyrischen Dorf eine streng bewachte und durch Stacheldraht gesicherte Grenze zur Türkei durch die Graslandschaft. Unmöglich ist es für die Familie die Großeltern mütterlicherseits zu treffen, ein von den Soldaten kontrolliertes Gespräch am Grenzzaun ist schon das höchste der Gefühle.
Doch man kann die Grenzposten auch ärgern, indem man heimlich Ballons in den kurdischen Nationalfarben Rot, Gelb und Grün steigen lässt, die dann freilich gleich abgeschossen werden. Es sind solche witzigen Momente des Widerstands, aber auch der von tiefer Menschlichkeit geprägte, einfühlsame Blick auf die Dorfbewohner und ihre Probleme, die "Nachbarn" trotz des ernsten Hintergrunds immer wieder Leichtigkeit verleihen und ihn nicht zum deprimierenden Drama werden lassen.
Dazu gehört auch, dass Sero davon träumt, endlich einen Fernseher zu besitzen, um Cartoons anzusehen. Seit fünf Jahren steht jetzt nämlich schon eine Stromleitung, Strom gibt es aber immer noch keinen, nur das batteriebetriebene Radio des Großvaters bringt die weite Welt in die abgeschiedene Region.
Als für den Jungen die Schulzeit beginnt, trifft er auf einen neu ins Dorf gezogenen Lehrer, der weniger an der Vermittlung von Schreib- und Lesekenntnissen als vielmehr an der Indoktrinierung der Kinder und ihrer Abrichtung zu fanatischen Nationalisten interessiert ist. Radikal arabisiert sollen die Kurden werden, jedes kurdische Wort im Unterricht wird mit Schlägen mit dem Stock bestraft, Antisemitismus soll mit Theaterspiel und einer für den Erzfeind Israel stehenden Puppe, auf die die Schüler mit einem Messer einstechen müssen, indoktriniert werden.
Unverständlich ist das für Sero, sind seine Nachbarn doch liebenswürdige Juden, mit denen die Familie bestens auskommt. Sein Onkel Aram ist sogar der Geliebte der Jüdin Hannah und auch eine Hochzeit scheint sich anzubahnen, doch dessen offene Kritik an der Gleichgültigkeit der syrischen Soldaten führt zu tragischen Wendungen, in denen auch der Terror des Baath-Regimes sichtbar wird.
Ruhig und rund erzählt Mano Khalil diese von persönlichen Kindheitserfahrungen inspirierte Geschichte. Großartig ist in der Hauptrolle der kleine Sehed Khalil, aber auch die anderen Schauspieler*innen überzeugen und viel Atmosphäre gewinnt der im irakischen Kurdistan gedrehte Film auch durch die vorzügliche Einbettung ins Milieu. Bestechend verankert die Kamera von Stéphane Kuthy die Handlung in der steppenartigen Grenzregion, die von warmen Brauntönen und bis zum Ende ständig scheinender Sonne bestimmt ist.
Einzelne Figuren wie der Lehrer oder Geheimdienstleute sind zwar ziemlich holzschnittartige Klischeebilder und Seros Mitschüler*nnen gewinnen kein Profil, dafür gelingt Khalil eine treffende Zeichnung von Seros Verwandten und den jüdischen Nachbarn. Fülle und Reichtum entwickelt "Nachbarn" durch diese Nebenfiguren, bei denen Seros autoritärer und wenig empathischer Onkel, der seine Frau immer wieder schikaniert, durchaus auch kritisch gezeichnet wird.
Eine Gegenposition zur aggressiven nationalistischen Rhetorik des Lehrers bezieht dieser Film auch in seiner einfühlsamen und seine Figuren liebenden Erzählweise. Die Schrecken der Diktatur werden nicht verharmlost, aber der sanfte Humor, zu dem auch das Scheitern des Traums des Lehrers von einer großen arabischen Palme im Schulhof gehört, oder teilweise die Scherze der Kinder, lockern "Nachbarn" immer wieder auf. Dem Terror und der Ausgrenzung werden so gerade durch die Unaufgeregtheit eindringlich Menschlichkeit und Nächstenliebe gegenübergestellt und beglückend wird beschworen, um wie viel leichter und schöner das Leben dadurch sein könnte.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok in St. Gallen.
Trailer zu "Nachbarn"
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