top of page
  • AutorenbildWalter Gasperi

Nomadland


Chloé Zhao verzichtet bei ihrem Oscarsieger und letztjährigem Gewinner des Filmfestivals von Venedig auf klassische Dramaturgie und setzt dafür auf einen genauen und empathischen Blick auf Lebensrealität am Rand der amerikanischen Gesellschaft, unaufgeregte Erzählweise und herb-poetische Bilder. – Ein großer Film in der Tradition des italienischen Neorealismus und John Fords "Früchte des Zorns".


Ein Insert informiert, dass nach Schließung der Gipsbergwerks in Empire, Nevada 2011 die Bewohner aus den Firmenwohnungen abzogen, die Postleitzahl der Stadt gelöscht wurde. – Die Stadt gibt es wirklich, auch die Schließung von US Gypsum Corporation entspricht der Realität. Die Gangrichtung gibt dieses Insert vor, denn mehr gefunden als erfunden wirkt der dritte Spielfilm der in den USA lebenden Chinesin Chloé Zhao.


Wie schon in ihren im Lakota-Reservat Pine Ridge in South Dakota gedrehten ersten beiden Filmen "Songs My Brothers Taught Me" und "The Rider" fließt auch bei dieser Adaption von Jessica Bruders 2017 erschienenem Sachbuch "Nomaden der Arbeit: Überleben in den USA im 21. Jahrhundert" Fiktion und Dokumentation bruchlos ineinander. Wie in diesen Filmen arbeitet Zhao aber auch hier mit Elementen des klassischen Western, stellt sich so einerseits in eine uramerikanische Kinotradition, übt andererseits aber auch implizit Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen.


Auf eine klassische Dramaturgie verzichtet die 39-jährige Regisseurin dabei. Allein durch Fern, die von der famosen und zurecht mit dem Oscar ausgezeichneten Frances McDormand gespielt wird, werden die einzelnen Szenen zusammengehalten. Nach dem Tod ihres Mannes und dem Verlust der Wohnung in Empire zieht sie in ihrem Van durch die USA. Nicht homeless sei sie, nur houseless, erklärt die moderne Nomadin einmal. Kein Einzelfall ist sie, wie die Begegnungen auf den verschiedenen Campingplätzen quer durch das Land zeigen und die sich teilweise jährlich beim Rubber Tramp Rendezvous in Arizona treffen.


An John Fords legendäre Steinbeck-Verfilmung "The Grapes of Wrath" knüpft "Nomadland" mit diesen Nomaden an. Wie Ende der 1930er Jahre die Familie Joad und viele andere nach der Großen Depression, von ihrem Land vertrieben, auf Arbeitssuche vom Mittelwesten nach Kalifornien zogen, so sind auch hier die Menschen seit der Wirtschaftskrise von 2008 unterwegs. Der Zielgerichtetheit und der Suche nach einer neuen Heimat in diesem Vorbild steht hier aber ein vielfach selbst gewähltes Nomadentum gegenüber, bei dem man zyklisch immer wieder an die gleichen Orte zurückkehrt.


Um Weihnachten arbeitet Fern, die früher auch mal Aushilfslehrerin war, so in einem riesigen Verpackungscenter von Amazon, zu anderen Jahreszeiten jobbt sie als Reinigungskraft auf einem Campingplatz, als Küchenhilfe in einem Fastfood-Restaurant oder bei der Zuckerrübenernte. Ungeschönt ist der Blick auf diese Realität, aber auch unaufgeregt. Zhao dramatisiert nicht und kritisiert auch nicht groß, sondern beschränkt sich darauf mit genauem Blick die Realität einzufangen.


Vorzüglich fügen sich dabei die beiden einzigen professionellen Schauspieler McDormand und David Strathairn mit ihrem ebenso unaufdringlichen wie authentischen Spiel in die Riege der Laienschauspieler, die sich weitgehend selbst spielen. Am Rand der Gesellschaft mögen diese Menschen leben, doch bei den wiederkehrenden Begegnungen auf den Campingplätzen, bei Gesprächen am Lagerfeuer und beim Umgang miteinander werden auch ihre Bindung und ihre Solidarität spürbar. Wie in "The Grapes of Wrath" die Stärke des Volkes beschwören wird, beschwört auch Zhoe hier die Kraft, die diese Randständigen aus ihrer Gemeinschaft schöpfen und auch die Freiheit, die dieses Leben abseits gesellschaftlicher Zwänge bringt.


Wie der empathische Blick auf diese Menschen vom italienischen Neorealismus der Nachkriegszeit, speziell von den Filmen Vittorio de Sicas wie "Fahrraddiebe" oder "Schuhputzer" beeinflusst ist, so knüpft Zhao mit den Vans auf den Campingplätzen und dem Nomadentum an die Wagenburgen und die Trecks im amerikanischen Western an.


Implizit erzählt "Nomadland" dabei freilich auch von den einstigen großen Träumen vom "Promised Land" und der heutigen Realität. Wie im Western beschwören Zhao und ihr britischer Kameramann und Lebenspartner Joshua James Richards dabei immer wieder in großartigen Totalen die Schönheit des Landes von der endlos weiten Prärie über die Badlands in South Dakota bis zur kalifornischen Pazifikküste. Herbe Poesie entwickelt dieses Roadmovie immer wieder auch durch die Abendstimmungen, die Richards hier einfängt.


Zutiefst amerikanisch ist "Nomadland" in diesem Gegensatz von Schönheit des Landes und prekären Lebensbedingungen. Spürbar werden in diesen Bildern immer wieder die Hoffnung und die Utopie, dass ein anderes, befreites Leben jenseits der Zwänge der Gesellschaft und der Lohnarbeit möglich sein müssten.


Dreimal wird Fern ein festes Dach über dem Kopf angeboten, doch ein Zurück in diese Sesshaftigkeit ist für sie nicht denkbar. Mit diesem Drang nach einem Leben unter freiem Himmel und auf der Straße knüpft Zhao nicht nur an die Tradition des Western insgesamt an, sondern zitiert auch ganz explizit einen der großen Klassiker dieses Genres: Wenn Fern aus ihrer verlassenen Wohnung durch den Türrahmen in die weite Landschaft blickt, ist das unübersehbar eine Reverenz an John Fords "The Searchers". Und wie es dort für John Waynes Ethan Edwards kein Leben bei seinen Verwandten geben kann, sondern er wieder in die Weite aufbricht, so führt auch bei diesem spektakulär unspektakulären Meisterstück des modernen US-Kinos, das im Blick auf die Realität auch in der Nachfolge der Filme von Debra Granik oder Kelly Reichardt steht, am Ende der Weg wieder auf die Straße.


Läuft derzeit in den österreichischen Kinos, z.B. im Metrokino in Bregenz, Cinema Dornbirn, Kino Rio in Feldkirch und Kino Bludenz - ab 10.6. in den Schweizer Kinos


Trailer zu "Nomadland"



Comentarios


bottom of page