Frank Matter zeichnet in seinem Dokumentarfilm das Leben von vier Menschen nach, die wie er am 8. Juni 1964 geboren wurden, und verknüpft die Biographien mit seinem Leben und den weltgeschichtlichen Ereignissen: Eine ebenso spannende wie reichhaltige Zeitreise, bei der der Basler Filmemacher nicht nur über den Wandel der Welt, sondern auch über Zufall und Schicksal reflektiert.
Ein Zitat aus Plutarchs "Parallelbiographien", in denen der griechische Autor jeweils eine Persönlichkeit der römischen und der griechischen Geschichte einander gegenüberstellt, hat Frank Matter seinem Dokumentarfilm vorangestellt: "Das Schicksal überfällt den Menschen nicht ohne Warnung, entgehen kann er ihm dennoch nicht."
Während bei Plutarch aber der gleiche Beruf das Bindeglied darstellt, zeitlich aber die Feldherren Alexander der Große und Caesar oder die Redner Demosthenes und Cicero Jahrhunderte trennen, wählte der Basler Filmemacher mit dem 8. Juni 1964 seinen eigenen Geburtstag als Bindeglied. Auslöser für den Film war für Matter einerseits die Begegnung mit ehemaligen Mitschüler*innen bei einem Klassentreffen, andererseits die Erinnerung an den Religionsunterricht in den 1960er Jahren. Damals hatte der Pfarrer den Kindern nämlich Bilder von Hungersnöten, Kriegsgebieten und Slums gezeigt und erklärt, dass sie Gott danken sollen, dass sie in der reichen Schweiz geboren wurden.
Ist es Zufall oder Schicksal, wo man geboren wird und wie man aufwächst? Und wie verlief das Leben von Menschen, die unter ganz anderen Umständen aufwuchsen? Gerne hätte Frank Matter die am gleichen Tag wie er geborene Tochter der ersten Kosmonautin porträtiert, doch diese reagierte auf seine E-Mails nicht.
Über Facebook-Inserate fand er schließlich rund drei Dutzend mögliche, am gleichen Tag wie er geborene Protagonist*innen. Vier davon wählte er schließlich aus, die aus Regionen stammen, zu denen er näheren Bezug hat oder in denen er auch länger lebte.
In Parallelmontage stellt Matter die Südafrikanerin Zukiswa Ramncwana, den Pariser Michel Berandi, die Amerikanerin Melissa Hensy und den Chinesen Li Pujian vor. In fließendem Übergang wechselt er zwischen diesen Menschen, lässt sie über ihr Leben berichten und flechtet dabei eigene Erinnerungen ebenso ein wie eine Fülle Archivmaterial, durch die die zeitgeschichtlichen Ereignisse lebendig werden.
So steht den bedrückenden Erfahrungen Zukiswas während der Apartheid das Abgleiten des gegen die bürgerliche Gesellschaft rebellierenden Michel in die Drogensucht gegenüber. Li Pujian erinnert sich an seine Kindheit während der Kulturrevolution, während der sein Vater in ein Umerziehungslager deportiert und seine Familie zur Landarbeit verpflichtet wurde ebenso wie an die Repressionen während der Ein-Kind-Politik. Und die Soldaten-Tochter Melissa erzählt von den ständigen Umzügen, vom Ausbruch aus der strengen väterlichen Gewalt und bitteren Erfahrungen mit Männern.
In meisterhafter Montage fließen nicht nur diese Erzählungen ineinander, sondern wird das Private auch immer mit dem Weltgeschichtlichen und mit den Erinnerungen Matters, die der Schauspieler Stefan Kurt spricht, an sein eigenes Leben verknüpft. Von der ersten Mondlandung als erste Fernseherfahrung über die Rebellion im kleinbürgerlichen Dorf mit langen Haaren und Kleidung und die erste Parisreise bis zum über zehnjährigen Aufenthalt in den USA und den Wechsel vom Journalismus zum Film spannt er den Bogen.
Wie Matters Leben ist auch das der anderen Protagonisten dabei untrennbar mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen verknüpft. Von den großen Hoffnungen nach dem Sturz des Apartheid-Regimes erzählt so die Südafrikanerin Zukiswa, die Wirtschaftswissenschaften studierte, aber mit ihrem Geschäft für Innenausstattung mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat. Der Chinese Li hat sich dagegen im boomenden China zum einfallsreichen Geschäftsmann entwickelt. Michels Leben wurde dagegen immer wieder von Abstürzen in die Drogensucht erschüttert, während Melissa schließlich mit einem rücksichtsvollen Mann in einem – wie sie selbst sagt – langweiligen und vorhersehbaren Leben ihr Glück gefunden hat.
Und mit dem Archivmaterial vom Vietnamkrieg über die Studentenunruhen des Mai 1968, die Kulturrevolution und die Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung, dem Fall der Mauer bis zum 11. September und der Digitalisierung erzählt "Parallel Lives" auch von der Veränderung der Welt, die für ihn schneller und zerrissener wurde, bis der Corona-Lockdown abrupt zu einem völligen Stillstand führte.
Ein großer Wurf ist Matter mit diesem Dokumentarfilm gelungen. Meisterhaft spannt er ein weites Netz, zeichnet mit seinen vier Protagonist*innen und seiner eigenen Biographie spannend private Lebensläufe nach und macht eindrücklich bewusst, wie sehr diese immer mit den gesellschaftlichen Veränderungen verbunden sind.
Parallel Lives Schweiz 2021 Regie: Frank Matter Dokumentarfilm Länge: 139 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Parallel Lives"
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