Zusammen mit Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini, Francesco Rosi, Ermanno Olmi und den Taviani-Brüdern gehören die 1933 in Modena geborene Liliana Cavani und der 1939 in Bobbio geborene Marco Bellocchio zu den Regisseur:innen, die in den 1960er Jahren neuen Schwung ins italienische Kino brachten. Während Bellocchio von seinem furiosen Debüt "I pugni in tasca" (1965) bis zu "Bella addormentata" (2012) mit seinen Angriffen auf Familie, Staat und Kirche immer wieder Aufsehen erregte, sorgte Liliana Cavani vor allem mit ihrem NS-Film "Il portiere di notte" (1974) für heftige Kontroversen. Das österreichische Filmmuseum widmet den beiden Regisseur:innen eine Doppel-Retrospektive.
Marco Bellocchio zeichnete schon in seinem ersten Film "I pugni in tasca" ("Mit der Faust in der Tasche", 1965), der 1965 beim Filmfestival von Locarno seine Premiere feierte, am Beispiel einer Familie, in der die blinde Mutter, drei epileptische Kinder und der gesunde älteste Sohn um den Vorrang kämpfen und sich gegenseitig ermorden, ein vernichtendes Bild der Dekadenz der bürgerlichen Familie.
Immer wieder formulierte Bellocchio in seinen Filmen seinen Zorn über gesellschaftliche Missstände in satirisch überspitzten Parabeln. In seinem zweiten Film "La cina è vicina" ("China ist nahe", 1967) beschreibt er die Wahlkampagne eines Kandidaten der sozialistischen Partei als kleinbürgerliche Farce vor einem Hintergrund allgemeiner Korruption und stellt dieser Welt als Gegenpol ein strenges katholisches Internat gegenüber, in dem Linksradikalismus maoistischer Prägung um sich greift.
Liliana Cavani legte dagegen nach einem Studium der Linguistik und der Altphilologie in Bologna sowie nach einem Regiestudium in Rom und mehreren Kurzfilmen nur ein Jahr später mit "Francesco d´Assisi" (1966) ihren ersten TV-Spielfilm vor. 23 Jahre später setzte sie sich in "Franziskus" (1989), in dem Mickey Rourke die Hauptrolle spielte, nochmals mit diesem "ersten Hippie der Geschichte" auseinander und kehrte 2014 nochmals mit "Sein Name war Franziskus" zu diesem Heiligen zurück.
Ebenfalls fürs Fernsehen entstand anschließend "Galileo" (1968), doch als dessen Ausstrahlung wegen kirchenkritischer Akzente untersagt wurde, brachte ihn ein Verleiher ins Kino. Der in diesem Film thematisierte Konflikt mit der Macht bestimmte auch den folgenden "I Cannibali" ("Die Kannibalen", 1969), bei dem sie unter dem Eindruck der 1968er-Proteste Sophokles´ Tragödie "Antigone" ins Mailand der Gegenwart verlegte.
Auch Bellocchio verarbeitete in seinem "Discutiamo, discutiamo" ("Wir reden und reden", 1968) betitelten Beitrag zum Episodenfilm "Amore e rabbia" ("Liebe und Zorn", 1968) die Studentenunruhen dieser Zeit und deckte die ohnmächtige Wut der studentischen Opposition auf.
Um das Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen geht es auch in Bellocchios "Nel nome del padre" ("Im Namen des Vaters", 1971), in dem Schüler eines katholischen Internats einen Streik des Dienstpersonals zum eigenen Aufstand nützen, dabei aber letztlich nur neue Hierarchien einrichten. Die realistische Ebene wird dabei immer wieder von surrealistischen Passagen unterbrochen, die an die Filme von Luis Bunuel erinnern.
Am Politthriller orientierte sich Bellocchio dagegen bei "Sbatti il mostro in prima pagina" ("Knallt das Monstrum auf die Titelseite!", 1973), in dem vor dem Hintergrund des in Dokumentarfilmszenen einfließenden Mailänder Wahlkampfs der Chefredakteur einer rechtsgerichteten Zeitung versucht, einen Sexualmord einem Anarchisten in die Schuhe zu schieben und so die gesamte politische Linke zu diffamieren.
Zwei Jahre später kam der dreieinhalbstündige Dokumentarfilm "Nessuno o tutti" ("Niemand oder alle", 1975) heraus, in dem sich Bellocchio engagiert mit dem Versuch der Wiedereingliederung psychisch Kranker in die Gesellschaft beschäftigt.
Die Familie, die katholische Kirche, autoritäre Strukturen und die italienische Politik sind Themen, die sich quer durch das Werk dieses Rebellen ziehen. So brachte 1979 "Salto nel vuoto" ("Der Sprung ins Leere") quasi eine Rückkehr zu seinem Debüt "I pugni in tasca" fokussierte er doch wiederum auf einer Familie und schilderte nun anhand eines gegenseitig voneinander emotional abhängigen Geschwisterpaars desolate familiäre Strukturen.
In die italienische Politik und Geschichte tauchte dieser scharfe Gesellschaftskritiker dagegen von "Buongiorno, notte" ("Buongiorno, notte – Der Fall Aldo Moro", 2003) bis zu "Vincere" (2009), "Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra" und "Rapito – Die Bologna Entführung" (2023) immer wieder ein. Während er in "Buongiorno, notte" die Entführung des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro im Jahr 1978 durch die Brigate Rosso in einem dichten Kammerspiel aus der Innensicht der Täter rekonstruiert, erzählt er in "Vincere" in Form eines durch fulminante Musikmontage opernhaft überhöhten Melodrams vom Aufstieg Mussolinis und der von ihm abgeschobenen ersten Frau, die um die Anerkennung ihres Sohnes als Kind des Duces kämpft.
In "Il traditore" zeichnete er wiederum kraftvoll die Geschichte des Mafiosi Tommaso Buscetta nach, der Mitte der 1980er Jahre sein Schweigen brach und in den sogenannten Maxi-Prozessen als Kronzeuge gegen die sizilianische Mafia aussagte. In die Mitte des 19. Jahrhunderts entführt dagegen "Rapito – Die Bologna Entführung", in dem der Altmeister detailreich und konzentriert einen unglaublichen historischen Fall von Machtmissbrauch durch Papst und Katholische Kirche nachzeichnet.
Im Gegensatz zu dieser Fokussierung auf sein Heimatland steht die internationale Ausrichtung Liliana Cavanis ab den 1970er Jahren. Zu einem Skandalfilm dieser Zeit wurde "Il portiere delle notte" ("Der Nachtportier", 1974). Dirk Bogarde spielt darin einen ehemaligen SS-Schergen, der zwölf Jahre nach Ende des Kriegs in einem Wiener Hotel, in dem er als Nachtportier arbeitet, einer von Charlotte Rampling gespielten jungen Frau begegnet, die er im KZ als 14-Jährige zu seiner Geliebten gemacht hatte. Erneut entwickelt sich nun ein sadomasochistisches Abhängigkeitsverhältnis.
Sexualität spielt auch eine zentrale Rolle im folgenden "Jenseits von Gut und Böse" (1976), in dem es um ein Dreiecksverhältnis zwischen der russischen Frauenrechtlerin Lou Salomé, dem geschlechtskranken Philosophen Friedrich Nietzsche und ihrem gemeinsamen Freund Paul Rée geht.
Drastisch vom Ausverkauf des menschlichen Körpers am Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt diese Provokateurin dagegen in der in Neapel spielenden Verfilmung von Curzio Malapartes Roman "La pelle" ("Die Haut", 1981), während sie mit der im Berlin des Jahres 1938 spielenden lesbischen Liebesgeschichte "Interno Berlinese" ("Leidenschaften", 1985) unübersehbar an "Il portiere del notte" anknüpfen wollte.
Auch Bellocchio hat mit seinen Filmen immer wieder für Skandale gesorgt. Waren es im Remake von "Il diavolo in corpo" ("Teufel im Leib", 1986), in dem es um eine Amour fou und die Unergründlichkeit des Begehrens geht, Sexszenen, die die Öffentlichkeit erregten, so provozierte und verärgerte er die Katholische Kirche mit "L´ora di religione" ("Das Lächeln meiner Mutter", 2002) dadurch, dass er von der bevorstehenden Heiligsprechung der Mutter eines atheistischen Künstlers erzählte. Provokant war aber auch "Bella addormentata" ("Schlafende Schönheit", 2012), in dem er den realen Fall von Sterbehilfe für eine seit 17 Jahren im Koma liegende Frau aufarbeitete.
So bietet die Doppel-Retrospektive die Möglichkeit spannende Parallelen und auch Gegensätze im schillernden Œuvre dieser beiden bedeutenden und immer wieder polarisierenden und Kontroversen auslösenden Regisseur:innen zu entdecken.
Weitere Informationen zu den einzelnen Filmen und Spieldaten finden Sie hier.
Trailer zu "Il portiere delle notte - Der Nachtportier"
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