Wie wenige andere Regisseure hat Jean-Luc Godard die Sprache des Films revolutioniert. Mit seinem Langfilmdebüt "À bout de souffle" schuf er 1960 nicht nur einen der ersten Filme der Nouvelle Vague, sondern auch einen filmischen Meilenstein. Radikale Regelbrüche und kühne Experimente mit Bild und Ton bestimmten auch sein weiteres Werk bis hin zu seinem letzten Film "Le livre d´image – Bildbuch (2018). Nun ist der einflussreiche französische Filmemacher am Dienstag, den 13. September im Alter von 91 Jahren im schweizerischen Rolle verstorben.
Der Polizistenmörder Michel (Jean-Paul Belmondo) flieht von Marseille nach Paris. Dort trifft er sich mit seiner amerikanischen Freundin Patricia (Jean Seberg). Doch die Polizei ist ihm schon auf den Fersen, wird die Freundin so lange unter Druck setzen, bis sie Michel verrät.
Die Story ist klassisch, die Verbeugung vor den amerikanischen Gangsterfilmen und deren klassischem Helden Humphrey Bogart ist unübersehbar und auch an offenen Zitaten mangelt es nicht. Doch gleichzeitig arbeitet Godard konsequent mit inszenatorischen Brechungen.
Zunächst ist "À bout de souffle" (1960) schon mal keine Studioproduktion: Godard drehte auf den Straßen von Paris und verdutzte Passanten blicken immer wieder direkt in die Kamera. Diese Originalschauplätze verleihen dem Film eine bis heute ungebrochene Authentizität und Frische. Aber auch die jungen, natürlichen SchauspielerInnen und die improvisiert wirkenden, aber überzeugenden Dialoge verhelfen diesem Langfilmdebüt zu seiner großen Spontaneität und Intensität.
Die damals revolutionären abrupten Schnitte, die jeden Szenenaufbau unterbinden, wirken heute kaum mehr verstörend, da sie längst Eingang ins konventionelle Kino gefunden haben, nichtsdestotrotz wirkt der Film auch 55 Jahr nach seiner Entstehung immer noch unglaublich modern und hat nichts von seiner Faszination verloren.
1960 war "À bout de souffle" ein Wellenbrecher des modernen Kinos, ein Werk, das die filmische Syntax revolutionierte, wie zuvor wohl nur die Filme Griffiths durch die Montage und Orson Welles´ "Citizen Kane" durch die Inszenierung in Plansequenzen. Luis Bunuel erklärte folglich auch: "Außer bei Godard sehe ich nichts Neues in der Neuen Welle", Pier-Paolo Pasolini schrieb 1971: "Zumindest die Hälfte des neuen Kinos in der ganzen Welt ist ein Godard-Kino" und der Schriftsteller Louis Aragon rief aus: "Die Kunst heute, das ist Jean-Luc Godard."
Untrennbar verbunden sind in "À bout de souffle" das Leben und das Kino, denn einerseits spielt Godard mit dem amerikanischen Genrekino, andererseits vermittelt er dicht und echt das Lebensgefühl der Jugend von 1960.
Das Spiel mit Zitaten wird das ganze Werk des 1930 in Paris als Sohn einer wohlhabenden Schweizer Familie geborenen Filmemachers bestimmen. Nicht in Frankreich, sondern in Nyon am Genfersee wuchs er auf, lebt etwa seit 1980 im ebenfalls am Nordufer des Genfersees gelegenen Rolle.
1949 begann er an der Sorbonne zwar ein Ethnologiestudium, doch seine große Leidenschaft gehörte dem Kino. Er besuchte regelmäßig die Filmprogramme der Cinémathèque Francaise, lernte dabei auch Francois Truffaut, Jacques Rivette und Eric Rohmer kennen und gehörte zusammen mit diesen – teilweise unter dem Pseudonym Hans Lucas - zu den ersten Autoren der 1951 von André Bazin gegründeten Cahiers du Cinéma. Die Autorentheorie, die in dieser Filmzeitschrift entwickelt und gepflegt wurde, floss nicht nur unmittelbar in die Filme ein, die diese Filmkritiker später drehten, sondern bestimmt bis heute den internationalen Autorenfilm.
Während seine zwischen 1954 und 1958 gedrehten fünf Kurzfilme nur wenig bekannt und kaum zu sehen sind, ging es nach "À bout de souffle" Schlag auf Schlag: Insgesamt 15 Spielfilme drehte er in den folgenden sieben Jahren. Dabei revolutionierte er nicht nur die filmischen Erzählweisen, sondern übte auch scharfe Gesellschaftskritik: "Le petit soldat" (1960), in dem sich Godard mit dem Algerienkrieg auseinandersetzte, war in Frankreich zwei Jahre lang verboten. In "Une femme est une femme" (1961) experimentierte er mit Ton und Farbe und erwies den Komödien und Musicals von Ernst Lubitsch und Vincente Minnelli seine Reverenz.
Ungleich ernster setzte er sich dagegen in "Vivre sa vie" ("Die Geschichte der Nana S.", 1962) mit der Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft und der Entindividualisierung durch Prostitution auseinander. Im Stil von Brechts epischem Theater brach er dabei in diesem Schwarzweißfilm den Illusionscharakter, indem in Kapitelüberschriften jeweils schon die folgende Handlung vorweggenommen wurde.
Mit "Alphaville" (1965) drehte er einen Science-Fiction-Film, in dem er die inhumane Maschinenwelt kritisierte, während er sich in "Le mépris" (1963) mit dem Spannungsverhältnis von Kunst und Geld, von Leben und Kunst und von Schein und Sein auseinandersetzte.
Allein 1966/67 drehte Godard sechs Spielfilme, am bedeutendsten davon ist wohl "Weekend" (1967). Hier wurde nicht nur radikal mit der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch mit dem bürgerlichen Kino abgerechnet, dessen Erzählweisen förmlich in die Luft gesprengt wurden.
Logische Weiterentwicklung dieses Wegs war es auch die üblichen Produktions- und Vertriebsweisen zu verlassen und die Filme nicht mehr ins Kino zu bringen. Das revolutionäre politische Engagement stand im Zentrum der Group Dziga Vertov, die Godard zusammen mit Jean-Pierre Gorin 1968 gründete. Es entstanden Experimente mit Video und Fernsehfilme, erst 1980 kehrte er mit "Sauve qui peut (la vie)" ins Kino zurück.
Fast nur aus Zitaten - aus vorgefundenen Bildern, Texten und Tönen – setzen sich die seither entstandenen Filme Godards zusammen. In "Passion" (1982) lässt er einen Filmregisseur große Gemälde der Kunstgeschichte nachstellen und nach dem richtigen Licht suchen, in "Detective" (1985) spielt er ironisch mit den Genre-Vorgaben, in "Prénom Carmen" (1983) dekonstruiert er den Stoff von Bizets berühmter Oper.
Nur wenige Kinofilme hat diese Galionsfigur des modernen Kinos seit der Jahrtausendwende gedreht, dass er freilich nichts von seiner Experimentierfreude verloren hat, beweisen "Adieu au langage" (2014), den er in 3D drehte und der in Cannes 2014 mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde, ebenso wie sein bislang letzter Film "Le livre d´image" (2018). - Am 13. September 2022 ist nun dieser permanente Revolutionär des Kinos im Alter von 91 Jahren in Paris verstorben.
Literaturtipps:
Bert Rebhandl, Jean-Luc Godard - Der permanente Revolutionär Andreas Hamburger, Gerhard Schneider, Peter Bär, Timo Storck, Karin Nitzschmann (Hg.), Jean-Luc Godard. Denkende Bilder
Die Top Ten-Filme von Jean-Luc Godard
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