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  • AutorenbildWalter Gasperi

Reinas

Die schweizerisch-peruanische Regisseurin Klaudia Reynicke erzählt vor dem Hintergrund der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage im Peru der frühen 1990er Jahre feinfühlig und differenziert eine autobiographisch inspirierte Coming-of-Age- und Familiengeschichte.


Die 15-jährige Aurora (Luana Vega) ist unübersehbar das Alter Ego der 1976 in Lima geborenen Regisseurin. Ihre Mutter Elena (Jimena Lindo) möchte mit Aurora und ihrer achtjährigen Schwester Luzia (Abril Gjurinovic) in die USA emigrieren, doch dazu muss der getrennt lebende Vater (Gonzalo Molina) eine Ausreisegenehmigung für seine Töchter unterschreiben.


Dieser Carlos ist aber ein spezieller Fall, ein Geschichtenerzähler oder auch notorischer Lügner und alles andere als zuverlässig. Da erzählt er zunächst als Taxifahrer eines klapprigen roten Ladas einem Fahrgast, dass er eigentlich Schauspieler sei und in drei Filmen von Roger Corman mitgespielt habe, seinen Töchtern will er eine Verletzung am Ellenbogen als Biss eines Krokodils verkaufen oder gibt vor als Mitarbeiter des Geheimdiensts sich nicht an die nächtliche Ausgangssperre halten zu müssen.


Man kann verstehen, dass das Zusammenleben mit diesem Mann schwierig war und warum die Ehe zerbrach. Wie die ihm entfremdeten Töchter Aurora und Luzia bleibt man auch als Zuschauer:in zunächst auf Distanz zu ihm, doch wie die beiden Mädchen entwickelt man trotz all seiner Fehler dennoch langsam Sympathie für dieses Schlitzohr.


Man spürt nämlich, wie Carlos seine beiden "reinas" – seine Königinnen – liebt, und warmherzig ist Klaudia Reynickes Blick nicht nur auf ihn, sondern auch auf die Mutter und vor allem auf die Töchter, aus deren Perspektive sie erzählt. Diese Wärme strahlt "Reinas" aber auch durch die in warme Farben getauchten Bilder und das flotte Erzähltempo aus.


Von Anfang an macht der Film mit Nachrichten von der Hyperinflation ebenso wie später von Anschlägen mit Autobomben der Terrororganisation "Leuchtender Pfad", mit wiederholten Stromausfällen, Militärkontrollen und nächtlichen Ausgangssperre spürbar, wie beunruhigend, wirtschaftlich und politisch schwierig die Situation im Peru der frühen 1990er Jahre ist. Ganz offen spricht die Mutter darüber, ist sich aber auch bewusst, dass ihre Familie in einer privilegierten Lage ist.


Aufgrund der geplanten Abreise in die USA zieht sie mit ihren Töchtern so nach der Geburtstagsfeier für Aurora aus dem eigenen Haus, das verkauft wurde, ins geräumige Haus der Großmutter, in dem eine Haushaltshilfe sich um die alltäglichen Aufgaben kümmert. Nah dran ist die Kamera von Diego Romero Suarez Llanos an den Figuren, versetzt beispielsweise bei der Geburtstagsfeier mitten ins Geschehen. Beiläufig fließen die schwierigen Verhältnisse nur ein – und sind doch immer präsent.


Ganz auf Augenhöhe mit den beiden Mädchen, vor allem mit Aurora erzählt Reynicke vom Coming-of-Age in diesem Ambiente, von wachsender Sympathie für den Vater, der sie zwar bald versetzt, dann aber doch mit ihnen einen Strandausflug macht, von Auroras Zerrissenheit zwischen Mutterliebe und Angst vor dem Verlust ihres Freundeskreises.


Kein Charakter ist hier eindimensional, sondern wunderbar ambivalent und liebevoll werden alle Familienmitglieder gezeichnet. Einfühlsam wird vor allem die Situation der beiden Töchter geschildert, bei denen Luzia immer wieder auf ihre große Schwester aufschaut und auf ihre Unterstützung hofft. Eindrücklich vermittelt Reynicke ihren Zusammenhalt, wenn sie im Schlussbild auf ihren fest verschlungenen Händen fokussiert.


Aber auch die Angst des Vaters vor endgültiger Trennung von seinen Kindern wird ebenso überzeugend vermittelt wie der Wunsch der Mutter, mit der Emigration vor allem ihren Kindern den Weg zu einer besseren Zukunft zu öffnen.


Man spürt in dieser Genauigkeit und Warmherzigkeit, wie dieser auch wunderbar natürlich gespielte Familienfilm, der nicht nur bei der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury in der Jugendfilmschiene "Generation Kplus" ausgezeichnet wurde, sondern auch in Locarno auf der Piazza Grande den Publikumspreis gewann, von persönlichen Erfahrungen geprägt ist.


Auch dieses Herzblut Reynickes, die selbst mit einem Teil ihrer Familie im Alter von zehn Jahren in den späten 1980er Jahren ihre Heimat in Richtung Europa verließ, macht diesen souverän zwischen ernsten und komödiantischen Momenten pendelnden, zartbitteren Familien- und Coming-of-Age-Film zu einem berührenden und bewegenden Kinoerlebnis.

 

 

Reinas

Schweiz / Peru / Spanien 2024 Regie: Klaudia Reynicke mit: Susi Sánchez, Abril Gjurinovic, Gonzalo Molina, Tatiana Astengo, Luana Vega, Jimena Lindo Länge: 105 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.


Trailer zu "Reinas"



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