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AutorenbildWalter Gasperi

Schuldig oder nicht schuldig? – Der US-Gerichtsfilm

Twelve Angry Men (Die zwölf Geschworenen; Sidney Lumet, 1957)

Im Gerichtsfilm werden auf engem Raum nicht nur wendungsreich Fragen von Schuld und Unschuld, sondern auch gesellschaftliche Themen verhandelt. Das Zürcher Kino Xenix widmet dem vor allem im US-Kino beliebten Genre im Oktober eine Filmreihe.


Spannung baut der Gerichtsfilm durch das Aufeinanderprallen von gegensätzlichen Positionen im engen Raum des Gerichtsaals auf. Anklage trifft hier auf Verteidigung und beide versuchen mittels Beweisen, Indizien und Zeugenaussagen den Sieg davonzutragen.


Wendungsreich wird die Handlung mit dem Auftauchen neuer Beweismittel oder Zeugen vorangetrieben und die Zuschauer:innen werden immer auch in die Position der Geschworenen versetzt, die über Lüge und Wahrheit, Schuld und Unschuld entscheiden müssen. Famos betrieb dieses Spiel zuletzt Justine Triet in "Anatomie d´une chute" (2023) und überließ bis zum Schluss das Urteil über die von Sandra Hüllter gespielte Angeklagte dem Kinopublikum.


Mag es freilich auch europäische Gerichtsfilme geben, so ist dieses Genre doch in erster Linie ein amerikanisches. Aufgrund des im angelsächsischen Raum verbreiteten Case-Law, bei dem Urteile vielfach auf Grund von Präzedenzfällen und nicht von Gesetzen gefällt werden, gibt es einerseits für Verteidigung und Staatsanwaltschaft mehr Handlungsspielraum und wird andererseits vom Kinopublikum weniger Kenntnis von Paragraphen verlangt.


Gebunden an die verbale Konfrontation entwickelte sich das Genre erst in der Tonfilmzeit und erlebte in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren seine Blütezeit. Als Gegenpol zu den aufwändigen Monumentalfilmen, mit denen man dem aufkommenden Fernsehen Paroli bieten wollte, ließen und lassen sich Gerichtsfilme günstig produzieren: Das Setting ist mit dem Gerichtssaal einfach gehalten, weder spektakuläre Bauten noch Effekte sind nötig, getragen werden die Filme von einem wendungsreichen Drehbuch und starken Schauspieler:innen.


Gleichzeitig sind die Filme mit der Dominanz von nahen Einstellungen auch prädestiniert für eine Zweitverwertung im Fernsehen. Wenig verwunderlich ist so auch, dass Sidney Lumets Klassiker "Twelve Angry Man" (1957) ursprünglich ein Fernsehspiel war und erst drei Jahre später von Lumet selbst fürs Kino adaptiert wurde.


Stehen hier die namenlos bleibenden Geschworenen im Mittelpunkt, die der Geschworene Nummer 8 (Henry Fonda) in mühevollem Ringen von Zweifeln an der Schuld eines wegen Mordes angeklagten Puerto-Ricaners überzeugt und zum Freispruch bewegt, so fokussiert Otto Preminger in "Anatomy of a Murder" (1959) auf den Bemühungen eines Provinzanwalts (James Stewart) den Freispruch eines wegen Mordes an dem Vergewaltiger seiner Frau angeklagten Offiziers (Ben Gazzara) zu erreichen.


Immer lassen sich im Gerichtsdrama aber auch aktuelle gesellschaftliche Fragen verhandeln. So demonstriert William A. Wellman im grimmigen Western "The Ox-Bow Incident" (1942), wie ein Mob von Cowboys nach einem fadenscheinigen Prozess drei Mexikaner ohne klare Beweise wegen eines Rinderdiebstahls lyncht.


Dieser Kritik an Vorverurteilung und Selbstjustiz steht in Robert Mulligans "To Kill a Mockingbird" (1962) mit dem von Gregory Peck gespielten Anwalt Atticus Finch ein Parade-Amerikaner gegenüber, der in der Top-Liste des American Film Institute auf Platz 1 als größter Held des amerikanischen Films geführt wird.


Die Handlung spielt zwar im Alabama der 1930er Jahre, doch der Einsatz des Anwalts für einen wegen Vergewaltigung einer weißen Frau angeklagten jungen Afroamerikaner ist mit seinem Plädoyer gegen Rassismus und Vorverurteilung und für Toleranz unübersehbar ein Reflex auf die Bürgerrechtsbewegung der 1950er und frühen 1960er Jahre.


Aber auch mit dem Nationalsozialismus konnte man sich in Form eines Gerichtsfilms auseinandersetzen. So zeichnet Stanley Kramer in "Judgement at Nuremberg" (1962) den Prozess gegen vier Juristen des NS-Regimes nach und deckt dabei nicht nur die Unmenschlichkeit des Regimes auf, sondern auch die Schwierigkeit einer objektiven Wahrheitsfindung.


Kramer zeichnete aber auch in "Inherit the Wind" ("Wer den Wind sät", 1960) einen Fall von 1925 nach, bei dem in einer Kleinstadt in Tennessee ein junger Biologielehrer (Dick York) verhaftet und vor Gericht gestellt wurde, weil er in der Schule Darwins Evolutionslehre vertrat. Vor Gericht entwickelt sich so eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem christlich fundamentalistischen Staatsanwalt (Fredric March) und dem agnostischen Verteidiger (Spencer Tracy). Mag "Inherit the Wind" vor fast 100 Jahren spielen, so ist sein Thema angesichts zunehmender fundamentalistischer Strömungen in den USA immer noch aktuell.


Aber auch die Diskriminierung Homosexueller kann im Gerichtsfilm verhandelt werden, wie Jonathan Demmes "Philadelphia" (1992) zeigt, in dem ein an Aids erkrankter Anwalt gegen seine Entlassung klagt. Aber wie das Engagement einer alleinerziehenden Mutter in Steven Soderberghs "Erin Brockovich" (1999) zeigt, kann das Genre auch benützt werden, um zu Zivilcourage und Protest gegen mächtige Konzerne und Umweltskandale aufzurufen.


Bildmächtiges Kino bieten Gerichtsfilme nicht, sorgen aber mit der pointierten Konfrontation der Gegner und überraschenden Wendungen für fesselnde Unterhaltung, die nicht nur Einblick in die Schwierigkeit oder sogar Unmöglichkeit der Wahrheitsfindung bietet, sondern mit gesellschaftlich relevanten Themen auch immer wieder zum Nachdenken anregen kann.


Weitere Informationen zur Filmreihe und Spieldaten finden Sie hier.



Trailer zu "Twelve Angry Men" (1957)



 

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