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AutorenbildWalter Gasperi

Schwesterlein


Stéphanie Chuat und Véronique Reymond erzählen in ihrem nach "La petite chambre" zweiten Spielfilm bewegend von der Beziehung zwischen einer Theaterautorin und ihrem an Leukämie erkrankten Zwillingsbruder. – Ein kleines, aber dicht und rund inszeniertes und von dem groß aufspielenden Duo Nina Hoss und Lars Eidinger getragenes Drama.


Wenn man Lisa (Nina Hoss) in einem Krankenzimmer bei der Blutabnahme sieht, könnte man meinen, dass sie krank ist, doch mit einem Schnitt zu einem Isolationszelt, in dem ihr an Leukämie erkrankter Zwillingsbruder Sven (Lars Eidinger) liegt, machen deutlich, dass die Dinge anders liegen. Gleichzeitig machen die direkte Gegenüberstellung der Szenen, aber auch die Blutabnahme, bei der das Blut quasi von Lisa zu Sven fließt, ihre enge Verbindung deutlich. Verstärkt wird dies noch durch das Volkslied "Schwesterlein", in dem sich die weibliche und die männliche Stimme abwechseln. Gleichzeitig weist dieses Lied aber auch schon auf den drohenden Tod und die damit verbundene Trennung voraus.


Um Sven beizustehen, ist Lisa, die mit ihrer Familie in der Westschweiz lebt, wo ihr Mann Martin (Jens Albinus) eine internationale Eliteschule leitet, nach Berlin zurückgekehrt. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, möchte Sven wieder in der Berliner Schaubühne den Hamlet spielen, den er vor der Erkrankung rund 300mal gespielt hat. Das Theater ist für ihn das Leben, lässt ihn seine Existenz spüren, doch der Regisseur David (Thomas Ostermeier) ist skeptisch angesichts seines Gesundheitszustands. Realität und Fiktion fließen in diesen Szenen ineinander, denn David wird von Thomas Ostermeier gespielt, der nicht nur künstlerischer Leiter der Schaubühne ist, sondern dort auch mit Lars Eidinger in der Titelrolle "Hamlet" inszeniert hat.


Aber auch Lisa war einst eine erfolgreiche Theaterautorin, jetzt aber verkümmert ihr künstlerisches Potential in der Schweizer Provinz, wo sie an der Schule ihres Mannes Deutsch unterrichtet. Durch die Krankheit Svens wird sie sich aber langsam bewusst, was sie im Leben will, dass sie die Zeit nützen und wieder Stücke schreiben will.


Völlig überfordert mit der Situation ist die Mutter (Marthe Keller) der Zwillinge, in deren Stadtwohnung sich Sven von der Chemotherapie erholen soll. Ganz auf diesen engen Raum konzentriert schildern Chuat und Reymond in einer rund 15-minütigen Szene ebenso dicht wie flüssig die Reibungen zwischen diesem Trio. Hervorragend ist das nicht nur geschrieben, sondern großartig harmonieren auch Nina Hoss, Lars Eidinger und Marthe Keller.


Mit einem Schnitt springt "Schwesterlein" nach rund 20 Minuten in die Westschweiz, wohin Lisa, genervt von der Mutter, Sven mitgenommen hat. An die Stelle der Großstadt tritt damit die winterliche Provinz und an die Stelle der engen Berliner Wohnung die weite Landschaft. Doch einerseits verbessert sich hier Svens Zustand nicht, andererseits kommt es zur Ehekrise zwischen Lisa und Martin, da er einen mehrjährigen Vertrag als Direktor der Eliteschule annehmen möchte, sie aber die Großstadt vermisst.


Mittelteil von "Schwesterlein" sind diese Szenen in der Westschweiz, ehe mit der Rückkehr nach Berlin der Bogen zum Anfang geschlagen und das klar in drei Abschnitte gegliederte Drama abgeschlossen wird.


Die Inszenierung von Chuat / Reymond ist unauffällig, ordnet sich ganz der Geschichte unter, schont aber den Zuschauer nicht bei der Schilderung von Svens sich verschlechterndem Gesundheitszustand. Viel Raum lassen die beiden Westschweizer Regisseurinnen den Schauspielern. Großartig verstehen sie es deren Blicke und Gesten in Szene zu setzen und das Beziehungsgefüge auszuloten.


Während Lisa angesichts der tödlichen Krankheit ihren Bruder über alles stellt, geht für ihre Umwelt das Leben weiter. Der Regisseur David hat Verpflichtungen gegenüber dem Theater, Lisas Mann muss eine berufliche Entscheidung treffen. Im Kontrast zu Svens Situation wird dabei eindrücklich deutlich, wie banal diese Dinge angesichts der Endlichkeit des Lebens letztlich sind.


Im Zentrum steht aber immer die Beziehung der Zwillinge, die in der Welt so verloren und auf sich gestellt sind wie Hänsel und Gretel im Grimmschen Märchen, auf das mehrmals Bezug genommen wird. Lisa lernt dabei aber auch aus dem Schatten ihres gefeierten Schauspieler-Bruders, aber auch ihres Mannes herauszutreten. Sie überwindet ihre Schreibblockade, die mit Svens Diagnose einsetzte und verarbeitet ihre Beziehung zu Sven literarisch. Dem zweistimmigen Lied "Schwesterlein" am Beginn steht so am Ende ihr zweistimmig von ihr selbst und ihrem Bruder gelesene Text gegenüber, in dem sie die Geschichte von "Hänsel und Gretel" auf ihre Beziehung umschreibt.

Läuft derzeit in den Schweizer Kinos - z.B. im St. Galler Kinok


Trailer zu "Schwesterlein"



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