Justine Triet zeichnet mit einer großartigen Virginie Efira in komplexer Erzählweise das Porträt einer Psychotherapeutin, die an ihrem Leben zu zerbrechen droht.
Ein glückliches Leben könnte Sibyl (Virginie Efira) führen, läuft es doch einerseits in ihrem Beruf als Psychotherapeutin bestens, andererseits hat sie in Etienne einen liebevollen, sehr häuslichen Lebensgefährten und zwei süße Töchter, die sie am Geburtstag überraschen. Dennoch will sie ihren lukrativen Job aufgeben und wie vor zehn Jahren wieder einen Roman schreiben.
Den meisten Patienten sagt sie so ab, was teilweise zu heftigen Reaktionen führt, einzelne wie den etwa achtjährigen Daniel behält sie aber und nimmt auf Drängen auch die Jung-Schauspielerin Margot (Adèle Exarchopoulos) an, die von ihrem Filmpartner schwanger ist, ihre aufstrebende Karriere aber nicht durch ein Kind gefährden will.
Anstelle zündender Ideen für ihren Roman steigen aber zunehmend bruchstückhaft und abrupt Erinnerungen an ihre Vergangenheit auf, an den Tod ihrer Mutter und eine schwierige Familienkonstellation, an Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern, vor allem aber an ihre leidenschaftliche Beziehung zu Gabriel (Gaspard Ulliel), die zwar schon Jahre zurückliegt, deren Ende sie aber immer noch nicht überwunden hat.
Inspiration findet sie erst, als sie sich intensiver mit Margot beschäftigt. Sie zeichnet die Therapiesitzungen heimlich auf und verwendet sie als Basis für ihren Roman, andererseits wecken diese Gespräche auch wieder Erinnerungen an Gabriel. So geht sie auch weniger auf Margots Probleme ein, sondern beginnt vielmehr deren Entscheidungen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zu lenken und sie zu manipulieren.
Als diese bei den Dreharbeiten auf Stromboli einen Selbstmordversuch begeht, folgt Sibyl ihr auf die italienische Vulkaninsel, die natürlich auch Erinnerungen an Roberto Rossellinis legendären Film "Stromboli" weckt, in dem es auch um eine Paarbeziehung ging. Nur über Sibyl will Margot nämlich mit dem Hauptdarsteller und Kindsvater und der deutschen Regisseurin (Sandra Hüller), die ihrerseits mit diesem Schauspieler liiert ist, kommunizieren.
Bald muss Sibyl dabei auch kurz im Film mitspielen, dann bei einer Szene auch die Regie übernehmen, als die entnervte Regisseurin die Crew durch einen spektakulären Abgang allein zurücklässt. Aber auch Sibyl, die selbst dringend Behandlung benötigen würde, stürzt auf dieser Insel durch eine unüberlegte Handlung schließlich tiefer in ihre Persönlichkeitskrise.
Ganz auf die von Virginie Efira vielschichtig gespielte Protagonistin fokussiert Justine Triet, die mit Efira schon „Victoria – Männer und andere Missgeschicke“ gedreht hat. Sie ist Dreh- und Angelpunkt des Films, ist in jeder Szene präsent und hält das komplexe – und insgesamt auch überkonstruierte - Geflecht aus Erinnerungen, Traumvorstellungen und die häufigen Szenenwechsel in der Gegenwart zusammen. Bruchstückhaft sind diese Momente, machen aber durch die Fülle der Belastungen, das Spannungsfeld zwischen Beruf und Privatleben, zwischen persönlichen Erinnerungen und belastenden Schilderungen der Patienten intensiv erfahrbar.
Äußere Handlung gibt es so in der ersten Hälfte wenig, sondern vielmehr wird das Psychogramm der Protagonistin gezeichnet, erst mit der Reise nach Stromboli wird die Erzählweise linearer, gleichzeitig beginnen sich dabei aber auch Film und Realität zu vermischen.
Trotz des ernsten Themas ist das kein schweres Drama, sondern eine – auch dank der Ausstrahlung von Efira – leichthändige Tragikomödie, die auf vielen Ebenen Fragen nach Identität und Mutterschaft thematisiert. Wie Sibyl den Tod ihrer Mutter scheinbar immer noch nicht verarbeitet hat, so ist auch ihr kleiner Patient Daniel vom Tod seiner Mutter traumatisiert. – Zweimal setzt so Triet auch in unterschiedlichen Versionen das afroamerikanische Spiritual „Motherless Child“ als musikalischen Kommentar ein, denn die Frage Mutterschaft oder Karriere ist auch eine zentrale für Margot.
Läuft ab 24. Juli in den österreichischen und deutschen Kinos
Trailer zu "Sibyl - Therapiezwecklos"
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