
Greg Kwedar erzählt mit einem großartigen Ensemble und mit quasidokumentarischem Gestus mitreißend von einem Theaterworkshop, durch den Häftlinge des Hochsicherheitsgefängnisses Sing Sing auf das Leben in Freiheit vorbereitet werden sollen.
Unterschiedliche Spielarten kennt der Gefängnisfilm. Ausbruchsfilmen wie Don Siegels "Escape from Alcatraz" ("Flucht aus Alcatraz", 1979) oder Franklin J. Schaffners "Papillon" (1973) stehen Filme über die Dynamik der Beziehungen unter den Häftlingen wie Jacques Audiards "Un prophète" (2009) oder über die Beziehung zwischen – vielfach sadistischen - Wärtern und Häftlingen wie Frank Darabonts "The Shawshank Redemption" ("Die Verurteilten", 1994) gegenüber.
Während John Frankenheimer in "Birdman of Alcatraz" (1962) auf dem wachsenden Forscherinteresse eines Häftlings fokussierte, erzählte Emmanuel Courcol in "Un triomphe" ("Ein Triumph", 2020) komödiantisch nach einem schwedischen Fall von einem Theaterprojekt in einem Gefängnis.
Greg Kwedars zweiter Spielfilm, dessen Titel an Michael Curtiz´ klassischen Gefängnisfilm "20.000 Years in Sing Sing" (1932) erinnert, baut auf dem realen Projekt RTA – Rehabilitation through the Arts auf, das 1996 in dem im Bundesstaat New York gelegenen Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing eingeführt wurde. Durch künstlerische Aktivitäten wie Theaterworkshops soll dabei die persönliche Entwicklung der Häftlinge und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft gefördert werden.
Der Erfolg scheint den Organisatoren recht zu geben, liegt doch die Rückfallquote unter den Teilnehmern des Projekts nur bei 5% im Gegensatz zu über 60% unter allen Häftlingen der USA. Allerdings dürfte sich die deutlich geringere Rückfallquote auch dadurch erklären lassen, dass das Projekt wohl eher gebildete und motivierte Häftlinge anspricht.
Kwedar fokussiert ganz auf den Workshop und dessen Teilnehmer. Beinahe nichts erfährt man über die Straftaten der Häftlinge, kaum eine Rolle spielen auch die Justizvollzugsbeamten. Markant wird aber der Kontrast zwischen Theaterbühne und Gefängnisalltag bewusst, wenn die vermeintlichen Schauspieler nach dem Fallen des Vorhangs nach einer Vorstellung von Shakespeares "Der Sommernachtstraum" in Reih und Glied antreten müssen und in ihre Zellen geführt werden.
Nicht nur ein neues Stück soll nun einstudiert werden, sondern mit Clarence „Divine Eye“ Maclin (Clarence Maclin) meldet sich auch ein neues Mitglied für das Projekt. Spannungen speziell zwischen John „Divine G“ Whitfield (Colman Doming), der wegen Mordes zu 25 Jahren Haft verurteilt ist und eine leitende Funktion im Theaterworkshop einnimmt, und "Divine Eye" bleiben zunächst nicht aus.
"Divine Eye" sprüht nämlich vor Ideen, spricht sich bei der Diskussion zur Wahl des Stücks gegen einen ernsten Stoff wie ein von "Divine G" selbst geschriebenes Stück aus und plädiert für etwas Komödiantisches, sei doch der Alltag im Gefängnis ernst genug. So bringt der Regisseur, der nicht nur von außen kommt, sondern auch einer der wenigen Weißen im Kreis der vorwiegend afroamerikanischen Häftlinge ist, die Idee eines ziemlich wilden Zeitreise-Stücks ins Spiel, das den Bogen vom Alten Ägypten über Robin Hood und Hamlet bis zu "Nightmare on Elm Street" spannen soll.
Dicht und in genau getimtem Rhythmus treibt Kwedar den Film mit Vorsprechen für die Rollen, Übungen, die der Selbstfindung der Mitwirkenden dienen, bis zu den Proben voran und sorgt gleichzeitig mit dem Pendeln zwischen Szenen in der Gruppe und Zweiersituationen für Dynamik und Abwechslung.
Quasidokumentarische Intensität entwickelt "Sing Sing" dabei nicht nur durch Pat Scolas bewegliche Handkamera, die immer nah an den Häftlingen ist, sondern auch durch die ungeschönten Farben und das natürliche kalte Licht der leicht körnigen, mit 16mm-Film aufgenommenen Bilder. Unmittelbar nimmt man so am Geschehen teil.
Vollendet wird der Eindruck von Authentizität aber durch das fulminante Ensemble, bei dem Profischauspieler neben Ex-Häftlingen, die eine Version von sich selbst spielen, perfekt harmonieren. Atemberaubend intensive Szenen gelingen Kwedar hier immer wieder und neben dem Profi Colman Domingo bietet vor allem der Ex-Häflting Clarence Maclin eine herausragende Leistung. Nichts wirkt hier gespielt, sondern unglaublich echt wirken Dialoge, Gesten und Gefühle.
Mit wiederholten Blicken auf die Umgebung wie den Hudson River oder Wiesen, macht Kwedar nicht nur das Spannungsfeld von Haft und Freiheit bewusst, sondern strukturiert "Sing Sing" auch. Scharfen Kontrast baut der Texaner aber auch dadurch auf, dass bei den Gesprächen immer wieder die Verletzlichkeit dieser scheinbar so abgebrühten und harten Verbrecher zu Tage tritt.
Mehrfach brechen hier die Männer in Tränen aus, wenn sie von Kindheitserlebnissen oder dem Tod ihrer Frau erzählen. Wut und Verzweiflung wird spürbar, wenn "Divine G", der immer wieder bekräftigt unschuldig zu sein, nach der abgelehnten Begnadigung seinen Gefühlen freien Lauf lässt, und ein überraschender Todesfall versetzt der Truppe einen tiefen Schock.
Doch man sieht und spürt auch immer wieder, wie die Häftlinge durch dieses Engagement aufblühen, wie sie lernen aufzutreten, Selbstbewusstsein und Stolz auf ihre Leistung entwickeln und wie sie sich innerhalb der Gruppe gegenseitig stärken.
Mitreißend feiert "Sing Sing" so nicht nur dieses Gefängnisprojekt, sondern bietet auch einen großartigen Einblick in die stärkende Kraft von Theaterarbeit im Allgemeinen und erzählt nebenbei auch, wie aus anfänglicher Aversion langsam eine Freundschaft wachsen kann, bei der sich die beiden Männer in Krisen gegenseitig stützen.
Sing Sing USA 2023 Regie: Greg Kwedar mit: Colman Domingo, Clarence Maclin, Sean San José, Paul Raci, David Giraudy, Patrick Griffin Länge: 107 min.
Läuft derzeit in den Schweizer und deutschen Kinos und ab 4.4. in den österreichischen Kinos.
Kinothek extra in der Kinothek Lustenau: Mo 5.5., 18 Uhr + Mi 14.5., 20 Uhr
Trailer zu "Sing Sing"
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