Zwei Schwestern wollen im Rio de Janeiro der 1950er Jahre ihren eigenen Weg gehen, doch die patriarchale Gesellschaft will sie in die Rolle von Hausfrau und Mutter drängen. - Karim Aïnouz gelang ein großes, leidenschaftliches Melodram, das durch das Spiel mit Licht, Farbe und Musik sowie die Präsenz der beiden Hauptdarstellerinnen intensives Gefühlskino bietet, aber auch Sozialkritik nicht zu kurz kommen lässt.
Schon die Vorspannsequenz, in der sich Guida (Júlia Stockler) und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Eurídice (Carol Duarte) in einem tropischen Dschungel aus den Augen verlieren, stimmen einerseits im Erzählten auf Inhalt, andererseits im leuchtenden Grün der wild wuchernden Vergetation und der Mischung aus Naturgeräuschen und Musik auf die Sinnlichkeit dieses Melodrams ein. Einen starken Akzent setzen auch die leuchtend roten Credits, die über die Bilder gelegt sind.
Abrupt wechselt der Film von dieser Szene in das Haus in Rio de Janeiro, in dem die beiden etwa 20-jährigen Schwestern mit ihren Eltern leben. Die Handlung von Martha Batalhas 2016 erschienenem Roman „Die vielen Talente der Eurídice Gusmão“ hat Karim Aïnouz dabei von den 1940er in die 1950er Jahren verlegt. Klar aufgeteilt sind die Rollen innerhalb der Familie: Der Vater, der Bäcker ist, bestimmt, die Mutter erfüllt duldend die Rolle der Hausfrau und Mutter, doch die beiden Töchter wollen ihren eigenen Weg gehen.
Während die begnadete Pianistin Eurídice von einem Musikstudium in Wien träumt, schleicht Guida nachts aus dem Haus, um sich mit einem griechischen Matrosen zu treffen. Der Vater freilich hat andere Pläne für seine Töchter, möchte eine mit dem Sohn seines Mehllieferanten verheiraten. Guida entzieht sich diesem Schicksal, indem sie mit dem Matrosen durchbrennt.
Als sie schwanger zurückkehrt, wirft sie der Vater aus dem Haus und erklärt ihr, dass Eurídice in Wien Musik studiere, während sie in Wahrheit wie geplant verheiratet wurde und in Rio lebt. Die sehnsüchtigen Briefe an Eurídice, die Guida zur Übermittlung an ihre Mutter schickt, strukturieren mit ihren Zeitinserts die Handlung, die sich bis in die späten 1950er Jahre erstreckt, um schließlich in einem Epilog in der Gegenwart zu enden.
An Wong Kar-Weis „In the Mood for Love” erinnert Aïnouz´ Spiel mit Licht, Farben und Musik, mit dem er und seine Kamerafrau Hélène Louvart große emotionale Intensität aufbauen. Das leuchtend grüne Kleid Guidas prägt sich so dem Zuschauer ebenso ein, wie das kräftig rote von Euridice. Meisterhaft beschwört der 1966 geborene brasilianisch-algerische Regisseur auch mit der Ausstattung die Stimmung der Zeit, hat keine Angst vor großen Gefühlen, vermeidet aber Kitsch und Rührseligkeit durch eine elliptische Erzählweise, bei der dramatische Ereignisse immer wieder übersprungen werden.
In den parallel erzählten Schicksalen der beiden von Carol Duarte und Júlia Stockler intensiv gespielten Schwestern bietet Aïnouz freilich über das Individuelle hinaus einen bewegenden Einblick in die Rolle der Frau im Brasilien der 1950er Jahre. Keine von beiden kann sich hier selbst verwirklichen. Eurídice lebt zwar in bürgerlichem Wohlstand, führt aber - dem Titel entsprechend - ein "unsichtbares Leben" an der Seite ihres Mannes und kann ihren großen Traum vom Klavierstudium in Wien nie verwirklichen.
Guida dagegen wird als Frau mit einem unehelichen Kind ausgegrenzt, landet im Armenviertel, schlägt sich mit einem Job in der Werft und als Putzfrau durch und muss sich auch immer wieder mal prostituieren, um Geld zu bekommen. Gleichwohl findet sie in diesem Elendsviertel in der ehemaligen Prostituierten Filo, die sich um die Kinder der arbeitenden Frauen kümmert, eine Freundin. Sie erfährt die Stärke der Solidarität von Frauen und wird an Eurídice schreiben „Familie ist nicht aus Blut. Sie ist aus Liebe.“
Geschmeidig verknüpft Aïnouz so die beiden Erzählstränge zu einem großen Frauenfilm, der in der Tradition der Melodramen von Douglas Sirk und Michael Curtiz, aber auch von Todd Haynes und Rainer Werner Fassbinder steht. Gemeinsam ist diesen Regisseuren die Auseinandersetzung mit Frauenfiguren, deren Lebensglück an gesellschaftlichen Regeln zerbricht.
Unübersehbar Fassbinders „Die Ehe der Maria Braun“, in dem am Ende auf der Tonebene mit dem WM-Sieg Deutschlands 1954 die Männerherrschaft wieder hergestellt wurde, zitiert Aïnouz dabei, wenn er Eurídices Freude über die Aufnahme ans Konservatorium mit der Gleichgültigkeit von Ehemann und Vater und einer im Radio laufenden Übertragung eines Fußballspiels – wohl die WM 1958, bei der Brasilien gewann – konterkariert.
Gefühlskino im besten Sinne wird hier geboten, weil einerseits alle filmischen Mittel mobilisiert werden, um Emotionen spürbar zu machen und beim Zuschauer auszulösen, andererseits gleichzeitig aber auch kritisch auf gesellschaftliche Verhältnisse geblickt wird. Gleichermaßen Zeitporträt wie klares Statement für die Selbstbestimmung der Frau ist dieses - wie Aïnouz seinen Film selbst nennt - " tropische Melodram", verteufelt dabei aber auch die Männer nicht, sondern zeigt sie als Produkte dieser patriarchalen Gesellschaft.
Läuft derzeit im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan. - Starttermin für Österreich noch nicht fixiert.
Trailer zu "The Invisible Life of Eurídice Gusmão"
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