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AutorenbildWalter Gasperi

The Outrun

Eine 29-jährige Alkoholsüchtige kehrt auf ihre heimatlichen Orkney-Inseln zurück, um von der Sucht loszukommen. – Nach "Systemsprenger" entwickelt Nora Fingscheidt erneut mit intensiver Bild- und Tonsprache sowie einer grandiosen Saoirse Ronan in der Hauptrolle einen energetischen Film über eine getriebene Frau.


Mit roher Kraft und einer großartigen Helene Zengel in der Hauptrolle erzählte Nora Fingscheidt in "Systemsprenger" von einem neunjährigen Mädchen, bei dem jeder Konflikt oder jede Enttäuschung einen unkontrollierbaren Wutausbruch auslösen. Wie Fingscheidt zusammen mit Kameramann Yunus Roy Imer und den Editor:innen Stephan Bechinger und Julia Kovalenko mit nah geführter, unruhiger Handkamera und nervösem Schnitt diese Wut physisch vermittelten, so lässt das weitgehend gleiche Team in "The Outrun" immer wieder den Absturz der Protagonistin Rona (Saoirse Ronan) in die Alkoholsucht hautnah erfahren.


Der linearen Erzählweise bei "Systemsprenger" steht bei dieser Verfilmung der 2016 erschienenen Memoiren der schottischen Journalistin Amy Liptrot aber eine achronologische Erzählweise gegenüber. Mit Einsetzen des Films hat Rona der Sucht schon abgeschworen, schon 90 Tage bei den Anonymen Alkoholikern in London hinter sich und kehrt nun nach zehn Jahren Abwesenheit auf ihre heimatlichen nordschottischen Orkney-Inseln zurück.


Hier will die Biologin ihrem Vater (Stephen Dillane) bei der Arbeit mit seinen Schafen helfen. Sie beginnt aber auch bei einem Vogelprojekt mitzuarbeiten, bei dem sie die Insel nach der zurückgedrängten und bedrohten Wachtelkönigin absuchen soll.


Immer wieder brechen aber abrupt, kurze, nicht chronologisch geordnete Erinnerungen sowohl an ihre Kindheit als auch und vor allem an ihre Sucht herein. In teils heftigen Szenen wird dabei Einblick in schwere Abstürze in einer Bar ebenso geboten wie in das Zerbrechen der Beziehung mit ihrem Freund Daynin (Paapa Essiedu) aufgrund ihrer Sucht bis hin zu einem Vergewaltigungsversuch an der Volltrunkenen.


Gesteigert wird der wilde Bilderfluss noch durch schwarzweiße Archivaufnahmen und einige animierte Szenen, doch langsam fügen sich die stark fragmentierten Blitzlichter zu einem Bild. Gleichzeitig werden in den Kindheitserinnerungen und auf der Gegenwartsebene aber auch die familiären Belastungen Ronas mit ihrer streng religiösen Mutter (Saskia Reeves) und ihrem bipolaren Vater, dem sie immer näher stand, sichtbar.


Visuell stehen dabei der Dominanz von Nahaufnahmen in den Londoner Rückblenden die Weite und Rauheit der nordschottischen Insellandschaft gegenüber. Im Tosen der Wellen und dem Brausen des Windes kann man auch eine Metapher für die Sucht sehen, die immer wieder über Rona hereinzubrechen droht. Spürbar wird hier, wie schwer es ist, dieser zu entkommen, wie groß die Verlockung ist und wie ein kleiner Tropfen genügt, um einen völligen Rückfall auszulösen.


Als dieser nicht ausbleibt, muss Rona nochmals von Null beginnen und zieht sich dazu noch weiter von der Welt auf die nur von rund 60 Menschen bewohnte Insel Papa Westray zurück. Erst dort findet sie auch ohne Alkohol durch die Freundlichkeit der Bewohner:innen und die Rauheit der unberührten Natur langsam wieder ein Gespür für Glück.


Spürbar wird dies auch dadurch, dass die Erzählweise nun zunehmend linearer wird und kaum mehr Erinnerungen an die Zeit in London hereinbrechen. Aber trotzdem muss sie von einem seit zwölf Jahren trockenen Alkoholiker erfahren, dass der Kampf gegen die Sucht nie endet, und in einer furiosen Montagesequenz am tosenden Meer fließen Befreiung und Sucht nochmals fulminant zusammen.


Großartig verstehen es Fingscheidt und ihr Team durch Bild- und Tonsprache die Gefühlszustände ihrer zerrissenen Protagonistin nach außen zu kehren. Das wird selbstverständlich auch durch die grandiose Naturkulisse des großteils an Originalschauplätzen der Memoiren von Amy Liptrot, die auch zusammen mit Fingscheidt das Drehbuch schrieb, unterstützt.


Entscheidend getragen wird der Film aber von der Hauptdarstellerin Saoirse Ronan, die "The Outrun" auch produzierte. Intensiv kann man in den zahlreichen Großaufnahmen den Kampf Ronas mit ihrer Sucht lesen und die Macht dieses Verlangens spüren, aber auch, wie sehr sie glaubt, erst durch Alkohol Glück finden zu können, obwohl am Ende immer unweigerlich ein dramatischer Absturz steht.


Ganz die energetische Kraft von "Systemsprenger" entwickelt "The Outrun" auch aufgrund des Springens zwischen den Zeitebenen nicht, macht andererseits aber gerade dadurch die Zerrissenheit Ronas erfahrbar und vermittelt hautnah, wie die Sucht immer noch die Gegenwart überlagert. – Bildmächtiges und kraftvolles Kino, das auch durch sein Sounddesign haften bleibt, ist Fingscheidt somit allemal gelungen.

 

 

The Outrun Großbritannien / Deutschland 2024 Regie: Nora Fingscheidt mit: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, Saskia Reeves, Nabil Elouahabi, Izuka Hoyle Länge: 118 min.



Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.



Trailer zu "The Outrun"



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