top of page
AutorenbildWalter Gasperi

The Quiet Girl - An Cailin Ciúin

Aktualisiert: 18. Nov. 2023


Ein vernachlässigtes Mädchen erfährt bei Verwandten, bei denen es den Sommer verbringt, erstmals Empathie und Liebe: Dem Iren Colm Bairéad gelang mit seinem weitgehend gälisch gesprochenen Spielfilmdebüt ein herzzerreißendes Drama über Kindheit, bei dem jedes Bild, jeder Ton und jede Geste stimmt.


Sich in die Gefühlswelt von Kindern zu versetzen und aus ihrer Perspektive überzeugend zu erzählen, ist sicherlich nicht leicht, doch gibt es Regisseure, die das meisterhaft beherrschen. Ein Spezialist dafür ist seit seinem herausragenden "Nobody Knows" der Japaner Hirokazu Koreeda, aber auch Lukas Dhont mit "Close" und Uberto Pasolini mit "Nowhere Special" konnten zu Tränen rühren.


Auch dem 1981 geborenen Iren Colm Bairéad, der bislang "nur" Kurzfilme und Dokumentarfilme drehte, gelingt in seinem Spielfilmdebüt, das letztes Jahr als erster irischer Film überhaupt für den Oscar als bester nicht englischsprachiger Film nominiert wurde, vom ersten Bild an Sympathie und tiefes Mitgefühl für die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) zu wecken. Wenn sie sich zunächst im Gras und dann unterm Bett versteckt und auf die Rufe der Mutter nicht reagiert, spürt man, wie sich dieses Mädchen am liebsten unsichtbar machen und der Familie und der Welt entziehen würde.


Mit wenigen Szenen zeichnet Bairéad in seiner Anfang der 1980er Jahre spielenden Verfilmung von Claire Keegans preisgekrönter Erzählung "Foster" ("Das dritte Licht") die bedrückenden familiären Verhältnisse mit einer mit vier Kindern überforderten, wiederum schwangeren Mutter und einem gefühlskalten und abweisenden Vater. Auch in der Schule ist Cáit isoliert und wird gemobbt.


Erfreut nimmt so die Mutter das Angebot an, als ihre Cousine Eibhlín vorschlägt Cáit über den Sommer aufzunehmen. Unsicher, was sie im geräumigen Haus und auf dem Hof des kinderlosen Paares erwartet, ist das schüchterne Mädchen zuerst, doch die Eibhlín nimmt sie mit so viel Liebe und Zuwendung auf, dass das Mädchen rasch auftaut. Mürrischer wirkt da schon ihr Ehemann Seán, doch auch hinter seiner rauen Schale wird langsam seine Fürsorge und Liebe sichtbar.


Intensiv spürbar werden diese Zuneigung und Zärtlichkeit in kleinen Szenen, wie einem Bad Cáits, bei dem Eibhlín ihr sanft mit dem Schwamm die kleinen Zehen schrubbt, wenn sie deren langen Haare kämmt oder wenn Seán wortlos auf dem Küchentisch ein Keks für sie zurücklässt. Im Schweigen und den Blicken der Zieheltern schwingt dabei im Hintergrund aber immer auch eine stille Trauer mit, deren Hintergrund erst spät gelüftet wird.

Klein gehalten ist die Geschichte, weitgehend auf den Bauernhof und diese Ersatzfamilie konzentriert sich der Film, doch Bairéad inszeniert diesen Alltag mit seinen Aktivitäten in der Küche und im Stall, aber auch einen Abend mit Kartenspiel mit Freunden mit so viel Feingefühl und Behutsamkeit, dass dieses stille Drama durchgehend Intensität entwickelt und berührt.


Das enge 4:3-Format dient dabei weniger zur Erzeugung beklemmender Enge als vielmehr zur Fokussierung des Blicks auf die Figuren. Das Überflüssige wird so ausgeblendet, die Konzentration liegt ganz auf den Menschen, ihren Blicken, Gesten und Gefühlen.


Gefordert sind damit auch die Schauspieler:innen und diese meistern ihre Aufgabe grandios und tragen "The Quiet Girl". Gerade in ihrer Zurückhaltung eindringlich und bewegend spielt die zur Zeit der Dreharbeiten etwa 12-jährige Catherine Clinch die verängstigte kleine Protagonistin, die langsam aufblüht, sich öffnet und Selbstbewusstsein entwickelt. Carry Crowley verleiht der Ziehmutter Eibhlín ebenso viel Wärme wie Andrew Bennett ihrem Mann die angemessene Wortkargheit und Reserviertheit.


Genau kontrolliert ist das Tempo und die Musik wird ebenso reduziert, aber pointiert eingesetzt wie Momente trockenen Humors. In der sorgfältigen Verankerung der Handlung auf dem Hof des Paares und dem genauen Blick für die alltäglichen Arbeiten kann man auch Bairéads Herkunft vom Dokumentarfilm spüren. Unaufdringlich beschwört er mit Ausstattung und Kostümen auch die Zeit der frühen 1980er Jahren. Gleichzeitig verleiht die bestechend eingefangene Atmosphäre eines für Irland ungewöhnlichen heißen und trockenen Sommers, in dem dennoch Grüntöne dominieren, diesem filmischen Kleinod eine poetische Note.


Nichts wird besonders betont und auf das Schüren von Emotionen verzichtet der Ire, doch gerade durch die Unaufgeregtheit entwickelt "The Quiet Girl" seine Kraft. Genau gesetzt sind die Momente des Redens und immer wieder des Schweigens und die Akzentuierung eines schnelles Laufs zum Briefkasten am Ende der Straße durch Zeitlupe, lässt Cáits Befreiung aus ihrer Erstarrung spüren.


Wie aus einem Guss kommt dieser Film daher, der gegen Ende auch großartig in einer Montagesequenz nochmals die zentralen Glücksmomente von Cáit zusammenfasst. Keine Effekte sind hier nötig, sondern die tiefe Menschlichkeit und die Liebe zu seinen Protagonist:innen prägt dieses kleine große Drama, das ganz universell und zeitlos eindrücklich davon erzählt, was Kindheit ausmacht und wie Liebe und Empathie oder eben deren Abwesenheit einen Menschen prägen.


The Quiet Girl - An Cailin Ciúin Irland 2022 Regie: Colm Bairéad mit: Catherine Clinch, Carrie Crowley, Andrew Bennett, Michael Patric, Kate Nic Chonaonaigh, Joan Sheehy, Tara Faughnan, Neans Nic Dhonncha Länge: 95 min.


Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.

TaSKino Feldkirch im Kino Guk: Mo 20.11., 18 Uhr, Mi 22.11., 20.30 Uhr, Do 23.11., 18 Uhr


Trailer zu "The Quiet Girl"



Comments


bottom of page