The Shameless
- Walter Gasperi
- vor 3 Tagen
- 3 Min. Lesezeit

Der Bulgare Konstantin Bojanov zeichnet anhand der Geschichte einer Prostituierten und eines Mädchens, das die Mutter ebenfalls für die Prostitution bestimmt hat, ein bedrückendes Bild der Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen in Indien: Atmosphärisch dichter und packender Mix aus Sozialdrama und Thriller, der aber nicht frei von dramaturgischen Schwächen ist.
Schon 2012 begann der Bulgare Konstantin Bojanov ("Ave") mit den Recherchen zu einem Dokumentarfilm über Liebe und Sexualität innerhalb der Grenzen des indischen Kastensystems. Dabei stieß er auf die Geschichte einer Devadesi, einer Tempeltänzerin, die von ihrer Familie – wie viele andere Tempeltänzerinnen - in die Sexarbeit gedrängt wurde. Deren enge Beziehung zu einer anderen Sexarbeiterin inspirierte den 57-jährigen Regisseur zur fiktiven Handlung von "The Shameless".
Schon der heftige Einstieg vermittelt Bojanovs genaue Kenntnis des Milieus. Kein distanzierter Blick von außen auf die Abgründe der indischen Gesellschaft ist das, sondern hautnah dran ist der Bulgare und lässt unmittelbar am Schicksal seiner Protagonistin (Anasuya Sengupta) teilhaben.
In einem schäbigen Zimmer reinigt eine Frau ein blutiges Messer, während im Hintergrund ein niedergestochener, schwer übergewichtiger Mann liegt. Durch die engen Gänge des Bordells in Delhi bahnt sich die Frau einen Weg ins Freie, flüchtet mittels Bus und LKW-Mitfahrgelegenheit aus der Metropole in die nordindische Stadt Chhatarpur. Dort landet sie aber sogleich wieder in der Prostitution, scheint dies doch der einzige Weg, Geld zu verdienen.
Eindringlich vermittelt Bojanov den ökonomischen Druck, der der Protagonistin, die sich nach einer hinduistischen Göttin Renuka nennt, in Wahrheit aber eine Muslima ist, jede Chance auf ein Entkommen aus der bedrückenden Situation verwehrt. Zupackend und quasidokumentarisch ist die Erzählweise. Nichts wird hier beschönigt und mit kräftigen Farben und starken Lichtakzenten schafft der Schweizer Kameramann Gabriel Lobos intensive Kinobilder, die zusammen mit den schäbigen Schauplätzen eine dichte Atmosphäre evozieren.
Getragen wird "The Shameless" aber von der großartigen Hauptdarstellerin Anasuya Sengupta. Sie lässt mit ihrem leidenschaftlichen Spiel den Hass dieser Prostituierten auf das ausbeuterische System und die Männer ebenso spüren wie die Furchtlosigkeit und Entschlossenheit, mit der sie ihren Peinigern gegenüber auftritt.
Weil der tote Kunde im Bordell ein Polizeikommissar war, ist sie nun auf der Flucht und wartet auf eine Gelegenheit das Land zu verlassen. In ihrer vorübergehenden Bleibe lernt sie aber den Teenager Devika (Omara) kennen, die die Mutter und Großmutter im Rahmen des Devadesi-Systems in die Prostitution verkaufen wollen. Rasch entwickelt sich eine intensive Beziehung zwischen den beiden Frauen und Renuka versucht zu verhindern, dass Devikas Leben den gleichen Weg nimmt wie ihr eigenes.
Etwas viel packt Bojanov in diesen Mix aus Thriller und Sozialdrama, sprunghaft und nicht immer nachvollziehbar ist teilweise die Handlungsführung. Zu bruchstückhaft bleibt wohl ohne Vorwissen der Blick auf das Devadesi-System und auch die Schilderung des wachsenden hinduistischen Nationalismus mit zunehmenden Angriffen auf Minderheiten wie Moslems wird mehr angerissen als wirklich ausformuliert. Kurz wird auch nur der Traum Devikas von einer Karriere als Rapperin ins Spiel gebracht, dann aber rasch wieder ganz aus den Augen verloren.
Zu bruchstückhaft bleibt auch die Geschichte um einen korrupten hinduistischen Politiker und um einen Auftragsmord. Doch trotz dieser Schwächen packt "The Shameless", der nicht in Indien, sondern unter sehr schwierigen Bedingungen in und um Kathmandu gedreht wurde, mit seiner kraftvollen Inszenierung und seinem kompromisslos-wütenden Blick auf eine beklemmende Realität. Lange schaut hier die Kamera auch in erschütternden Momenten wie einem brutalen Mord durch einen Mob oder eine Vergewaltigung hin, bis ein Schnitt folgt und sich der Fokus auf die Mutter verschiebt, die den Fernseher lauter dreht, um die Schreie der Tochter zu übertönen.
The Shameless
Schweiz / Frankreich / Bulgarien / Taiwan / Indien 2024 Regie: Konstantin Bojanov mit: Anasuya Sengupta, Omara, Auroshikha Dey, Rohit Kokate, Kiran Bhivagade, Tanmay Dhanania Länge: 115 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.b. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "The Shameless"
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