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AutorenbildWalter Gasperi

Todd Haynes-Filme – Gesammelte Filmrezensionen

Aktualisiert: 2. Jan. 2021


Carol (Todd Haynes, 2015)

Chronologisch geordnet im Folgenden in den letzten zwei Jahrzehnten verfasste Rezensionen zu Filmen von Todd Haynes.


Far from Heaven (2002): Vom ersten bis zum letzten Bild erinnert "Far from Heaven" sowohl ästhetisch als auch inhaltlich an die rund 50 Jahre alten Kleinstadt-Melodramen von Douglas Sirk, vor allem an "All That Heaven Allows" (1954), und dennoch wirkt Haynes Film nie epigonal, altmodisch oder lächerlich. Weil hier einer mit großer Ernsthaftigkeit in eine vergangene Welt eintaucht, diese in makelloser Inszenierung wieder auferstehen lässt und sich mit äußerster Konsequenz seinem Thema widmet, ist ein Meisterwerk von großer emotionaler Kraft und zeitloser Schönheit entstanden.

Zu den Vorspanntiteln gleitet Ed Lachmanns Kamera aus der Vogelperspektive über die in kräftige warme Herbstfarben getauchte Kleinstadt Hartford, Connecticut. Am Stadtrand wohnen in ihrem Einfamilienhaus Frank (Dennis Quaid) und Cathy (Julianne Moore) Whitaker mit ihren zwei Kindern und dem - selbstverständlich - schwarzen Dienstmädchen.

Meisterhaft versteht es Haynes durch Autos, Kostüme und die mit Akribie und großer Liebe zum Detail ausgestatteten Interieurs die scheinbar idyllische kleinstädtische Welt der 50er Jahre zum Leben zu erwecken. Eisenhower spricht später im Fernsehen und Senator McCarthys Kommunistenjagd ist noch in vollem Gange.

Harmonisch scheint das Familienleben abzulaufen und die Klatschkolumnistin der lokalen Tageszeitung möchte eine Story über die Gattin des erfolgreichen, bezeichnenderweise in der aufkommenden Fernsehbranche tätigen Gatten bringen.

In ihrem Garten trifft Cathy auf den schwarzen Gärtner Raymond (Dennis Haysbert) - und wieder schwelgt die Kamera in wärmstem Rot, Gelb und Braun -, doch schon ein Gespräch mit diesem gesellschaftlichen Außenseiter und ein Griff auf die Schulter erregt argwöhnische Blicke der Klatschkolumnistin.

Dieser Begegnung Cathys steht Franks Verhalten in der Stadt gegenüber: Aus der Horizontale gerückt, leicht gekippt ist die Kamera, wenn er zwei Männern in eine düstere, in giftig grünes Licht getauchte Bar folgt. Seiner Frau teilt er telefonisch mit, er müsse länger arbeiten, worauf sie ihm das Abendessen ins Büro bringen will. - Die Überblendung mit der Haynes Cathy zu Franks Arbeitsplatz wechseln lässt ist typisch für den ebenso flüssig dahin gleitenden wie eleganten Erzählrhythmus, der durch Elmer Bernsteins stilvolle einschmeichelnde Musik noch verstärkt wird.

Wieder kippt die Kamera aus der Horizontalen, wenn die verstörte Cathy ihren Mann in enger Umschlingung mit einem Mann entdeckt. Die scheinbar intakte Oberfläche ist zerbrochen und in der folgenden Aussprache verdeutlicht die Lichtregie, durch die jeweils eine Gesichtshälfte ins Dunkel getaucht wird, die Zerrissenheit der Figuren.

Der "Kranke", der sein Begehren verheimlichen muss und es selbst als verachtenswerte Schwäche ansieht - in dieser repressiven Gesellschaft wird versucht das Wort "Homosexualität" zu vermeiden -, will sich zwar behandeln lassen, doch Cathy bleibt allein mit diesem Geheimnis, kann sich in dieser kalten blauen Stadt auch gegenüber ihrer Freundin nicht aussprechen.

Verständnis und Wärme - und jede Begegnung bringt das durch eine sofortige Änderung des Lichts, durch eine Aufhellung und Illumination von Cathys Gesicht unmissverständlich zum Ausdruck - findet sie nur bei Raymond.

Doch Glück kann es für die beiden nicht geben, nur als - für die Herrschenden unsichtbares - Dienstpersonal sind Schwarze geduldet, ein Kontakt darüber hinaus wird - mustergültig sind diese Szenen in ihrer Prägnanz - mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und verächtlichem Klatsch geahndet. Doch auch Raymond wird für seine Beziehung zu Cathy von den Schwarzen geschnitten.

Etwas mehr Freiheiten als der Frau werden allerdings den Männern doch zugestanden: Während sowohl Frank als auch Raymond ein neues Leben beginnen können, bleibt die verzichtende Cathy ohne Hoffnung zurück. - Die emotionale Eiszeit der Gesellschaft dauert an, auch wenn das Erblühen eines Baumes von der Ankunft des Frühlings kündet.

Was Douglas Sirk in den 50er Jahren in seinen Melodramen höchstens andeuten durfte, wird von Haynes konsequent ausformuliert. Doch so konkret "Far from Heaven" geographisch und zeitlich verankert ist, so sehr Rassendiskriminierung und Ausgrenzung von Homosexuellen Themen der 50er Jahre sein mögen, so universell und zeitlos ist er in seiner Thematik. Nicht nur in den USA der 50er Jahre, die laut Haynes an Konservativismus von der Äera Bush jr. übertroffen werden, stand und steht das Streben nach privatem Glück vielfach im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Zwängen, scheitert(e) der Einzelnen an den äußeren Umständen, wird ein Leben nach seinem Inneren, nach eigenen Begierden und Vorlieben von äußeren Normen und Regeln behindert.

Haynes größte Leistung besteht dabei fraglos im virtuosen Umgang mit der Filmgeschichte. Ohne je auch nur im Geringsten ins postmoderne Zitieren abzugleiten, verarbeitet er zahlreiche Motive von Douglas Sirks "All That Heaven Allows" (1954) und "Imitation of Life" (1959) zu einem authentischen, nie manierierten klassischen Melodram. Ergänzt und entscheidend gestützt wird dabei Haynes ebenso konzentrierte wie souveräne Regie von den wunderbar zurückhaltend agierenden Schauspielerinnen, der grandiosen Kameraarbeit von Ed Lachmann, aber auch dem Production Design von Marc Friedberg und den Kostümen von Sandy Powell. - Erst durch das perfekte Zusammenspiel dieser Komponenten gewinnt "Far from Heaven" seine große Geschlossenheit und emotionale Kraft und wird zu dem, was er ist: Ein makelloses Meisterwerk von überwältigender und wohl auch zeitloser Schönheit.



I´m Not There (2007): Biopics über Musiker gibt es viele und meistens versuchen die Regisseure dabei brav die Lebensgeschichte zu rekonstruieren und nachzuzeichnen. Todd Haynes freilich geht in seinem Bob Dylan-Film andere Wege, nimmt nur einige Eckdaten und entwirft daraus ein inhaltlich und formal schillerndes Kaleidoskop über die Brüchigkeit von Identitäten.

Nicht "based on a true story" oder ein ähnliches Insert, das die Authentizität des Folgenden beglaubigen soll, steht am Beginn, sondern "inspired by the many lives and time of Bob Dylan". Haynes gibt damit von Anfang an gar nicht vor ein Leben rekonstruieren zu können, sondern beharrt geradezu auf seiner künstlerischen Freiheit. Dazu gehört auch, dass der Name Bob Dylan in den folgenden 135 Minuten nicht mehr fallen wird. – Der Sänger-Poet ist ganz dem Titel entsprechend nicht da und zudem wird seine Person in sechs Figuren – ein Verfahren, das an Todd Solondz "Palindrome" erinnert - mit jeweils anderen Namen und unterschiedlichem Alter, Hautfarbe und Geschlecht aufgesplittet.

Vom 11jährigen schwarzen Jungen (Marcus Carl Franklin), der sich als Woody Guthrie ausgibt, mit Gitarre von zu Hause ausbüchst und auf Güterzügen durchs Land reist, über den Folk-Sänger Jack Rollins (Christian Bale), den Rimbaud zitierenden Arthur (Ben Wishaw) und den von Eheproblemen geplagten Schauspieler Robbie (Heath Ledger) bis zu Jude (Cate Blanchett), der von den Fans abgelehnt wird, weil er sich der Rockmusik zuwendet, dem zum Christentum bekehrten John (Christian Bale), der seine Lieder als Predigten versteht, und dem gegen die Zerstörung eines Dorfes durch Autobahnbau protestierenden alternden Billy the Kid (Richard Gere) spannt sich der Bogen.

Das Konzept der ungebrochenen Identität wird damit verworfen und Rimbauds Bonmot "Ich ist ein anderer" Rechnung getragen. Dieser Wandel, der auch an Heraklits "Am morgen bin ich ein anderer, als ich am Vortag war" erinnert, wird nicht nur von einem der Dylan-Darsteller konkret thematisiert, sondern von Haynes auch noch in die filmische Form übertragen. Denn er verweigert sich sowohl einer chronologischen Erzählung als auch einer klaren Kapitelgliederung. Vielmehr mischt der Amerikaner in einer geradezu sensationellen Freiheit des filmischen Erzählens die einzelnen Dylan-Figuren durcheinander und wechselt auch kühn im Stil. Farbige Spielszenen finden sich da neben schwarzweißen Cinema verité-Passagen, inszenierte Interviewszenen mit beispielsweise Julianne Moore als Alice Fabian alias Joan Baez neben Found Footage. Dokumentarisches mischt sich so mit surrealen Szenen, in denen Giraffen durch das Bild stolzieren, Privates mit Öffentlichem, Erfundenes mit Wahrem.

Was so entsteht ist einerseits ein schillerndes Kaleidoskop mit vielen Anspielungen, die wohl nur Dylanologen entschlüsseln können. Denn über Dylans Leben erfährt man nur Bruchstücke, die man – wie seinen Motorradunfall, die 1973 geschiedene Ehe oder sein Übertritt zum Christentum – nur dann identifizieren und in den Kontext einordnen kann, wenn man in der Biographie Dylans sattelfest ist.

Andererseits wird "I´m Not There" dadurch auch zu einem Film über Identität im Allgemeinen und den Fluch des Ruhmes, den Wunsch den Medien zu entkommen, unsichtbar – letztlich auch für sich selbst – zu werden. Dieses Motiv zieht sich dann auch durch "I´m Not There": Immer wieder müssen sich die verschiedenen Dylan-Figuren, - vor allem der von Cate Blanchett gespielte Jude, der dem originalen Dylan wohl am nächsten ist, oder der Schauspieler Robbie Pressekonferenzen stellen, Interviews geben, sich Paparazzis entziehen.

Gleichzeitig führt Haynes aber auch über die verschiedenen Filmstile einen Diskurs sowohl mit der Filmgeschichte als auch mit den Wandlungen Dylans: Auf Fellinis "Otto e mezzo" wird dabei ebenso angespielt wie auf die Beatles Filme oder auf Truffauts "Die amerikanische Nacht" und die Episoden mit Richard Gere orientieren sich an Sam Peckinpahs "Pat Garrett und Billy the Kid", in dem Dylan eine kleine Rolle spielte und für den er den Song "Knockin´on Heavens Door" schrieb. – Dieser Song wird aber ebenso wie andere legendäre Hits wie "Like A Rolling Stone" oder "Mr. Tambourine Man" in den Nachspann verbannt, während der Soundtrack des Films aus unbekannteren Liedern des Meisters oder Cover-Versionen davon gebildet wird.



Carol (2015): In seiner für fünf Golden Globes nominierten Patricia-Highsmith-Verfilmung erzählt Todd Haynes von einer lesbischen Liebe im USA der 1950er Jahre, die an der repressiven Gesellschaft zerbricht. – Ein im Stil der großen Melodramen von Douglas Sirk makellos inszeniertes und herausragend gespieltes Melodram über ein langsam erwachendes Begehren, das vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden muss.

Wie sehr gleichgeschlechtliche Liebe im Amerika der 1950er Jahre noch verheimlicht werden musste, macht schon die Geschichte der literarischen Vorlage deutlich. Denn Patricia Highsmith veröffentlichte ihren autobiographisch getönten Roman "The Price of Salt", der erst später den Titel "Carol" erhielt, nicht unter ihrem eigenen Namen, sondern unter dem Pseudonym Claire Morgan. Erst 1984 bekannte sie sich öffentlich zur Autorschaft.

Wie geschaffen scheint dieses Buch für Todd Haynes, der nach dem grandiosen Melodram "Far from Heaven" (2003) und der hochgelobten HBO-Mini-Serie "Mildred Pierce" (2011) erneut vom Streben amerikanischer Frauen nach Unabhängigkeit und Glück in einer repressiven Gesellschaft erzählt.

Schon das erste Bild kann man als Chiffre für diese Gefangenschaft lesen, wenn die Kamera von Ed Lachman lange auf einem Kanaldeckel verweilt, man nur im Off Zuggeräusche hört, bis sich die Kamera erhebt, eine aus dem Bahnhof kommende Menschenmasse erfasst, dann einem der Männer über die Straße zu einem Restaurant folgt. Schon diese fulminante erste Einstellung erweckt mit den Autos, Mänteln und Hüten die frühen 1950er Jahre zum Leben, lässt atmosphärisch dicht in diese Zeit eintauchen.

Auf Super-16mm haben Haynes und Kameramann Lachman "Carol" gedreht, um die Ästhetik damaliger 35mm-Filme zu erzeugen. Leicht grobkörnig sind die Bilder, die Farben strahlen nicht, sondern sind gedämpft, doch passt hier eben jeder Farbtupfer ebenso wie jedes Accessoire.

Retrospektiv erzählt Haynes die Geschichte der Oberschicht-Lady Carol Aird (Cate Blanchett) und der einfachen Verkäuferin Therese Belivet (Rooney Mara). Ihr Gespräch im Restaurant wird der Mann aus dem Zug stören, wird Therese zu einer Party von Journalisten mitnehmen, während Carol zu einer anderen Abendveranstaltung gehen wird.

Wenn Therese im Auto sitzt und aus der verregneten Scheibe blickt, wird sie sich an ihre Beziehung zu Carol erinnern und eine fast den ganzen Film umspannende Rückblende wird einsetzen. Immer wieder werden dabei Haynes und Lachman ihre Protagonistinnen durch verregnete oder verschmierte Fensterscheiben filmen, werden sich Dinge in den Scheiben spiegeln und so die Nähe gebrochen und eine Distanz aufgebaut werden.

Nur über wenige Wochen spannt sich die Handlung, die kurz vor Weihnachten 1952 einsetzt und bei der auch die kalte Winterstimmung mit der rigiden Gesellschaft korrespondiert. Wie der Film mit dem Blick des Mannes auf Carol und Therese im Restaurant einsetzte und wie der Blick von Therese auf die nächtlichen Straßen von New York die Rückblende einleitete, so beginnt auch die Beziehung von Carol und Therese mit einem intensiven Blickkontakt.

Bevor nämlich noch die gut 40-jährige vornehme Dame im Warenhaus zum Tisch der jungen tschechisch stämmigen Verkäuferin kommt, erblickt diese schon die Frau in ihrem eleganten cognacfarbenen Pelzmantel, ihrem roten Seidenschal und Hut. Im intensiven Blick spürt man ihr Interesse und wenn sich Carol an Therese wendet, liegt sogleich ein Knistern in der Luft.

Weder der Altersunterschied noch die gesellschaftliche Kluft sind ein Hindernis für das Begehren, das sich langsam steigert, doch in einer Gesellschaft, in der solche Gefühle nicht mit Worten artikuliert werden dürfen, müssen es mit Blicken und Gesten ausgedrückt werden. Offen bleibt hier, ob Carol zufällig ihre Handschuhe im Warenhaus vergisst, oder absichtlich.

Therese jedenfalls nützt die Gelegenheit, um sie an Carol zu schicken und so erhält sie eine Einladung in das herrschaftliche Landhaus und wird später Carol in ihre bescheidene Wohnung einladen.

Kein Zufall ist es wohl, dass Therese in der Spielwarenabteilung arbeitet und Puppen und Modelleisenbahnen verkauft, denn darin kann man einen Verweis auf eine Gesellschaft sehen, in der die Menschen wie auf Schienen funktionieren müssen, keinen Freiraum haben. Gleichzeitig kann man das aber auch als eine Reverenz an Douglas Sirks "There´s Always Tomorrow" (1956) lesen, in dem ein Spielzeugfabrikant wie seine Produkte in seinem Leben gefangen ist.

Den Eindruck von Gefangenschaft vermittelt auch Carols von mächtigen Steinwänden dominiertes Haus. Gleichzeitig wird darin im Kontrast zur kleinen Stadtwohnung von Therese aber auch das gesellschaftliche Gefälle sichtbar.

Meisterhafte Arbeit haben hier die Kostümbildnerin Sandy Powell und der Setdesigner Heather Loeffler geleistet, denn hier charakterisieren Ausstattung und Kostüme immer auch die Figuren, ohne dass dieser Aspekt freilich forciert wird, sondern sich ganz der Handlung unterordnet.

Nicht ertragen kann Carols Mann Harge (Kyle Chandler), mit dem sie in Scheidung lebt, dass seine Frau eine Beziehung nicht mit einem anderen, sondern einer anderen beginnt, und wird als Carol mit Therese zu einer Fahrt durch die USA aufbricht, im Kampf um das Sorgerecht zu schmutzigen Mitteln greifen.

Viel Zeit lässt sich Haynes in diesem wunderbar kontrollierten Film, dessen Stimmung und Erzähltempo auch großartig von Carter Burwells Musik unterstützt wird, lässt die Emotionen zwar von Anfang an im Innern brodeln, aber die Leidenschaft erst spät durchbrechen. Nur einen kurzen Moment des Glücks gönnt er dem Paar, bis sich Carol entscheiden muss.

Denn die Freiheit der Entscheidung für die lesbische Liebe gibt es hier durchaus, doch die Frage ist eben, welchen Preis man bereit ist, dafür zu zahlen. Während Therese, deren Wandlung von der schüchternen und unsicheren jungen Verkäuferin über die durch die Liebe aufblühende bis zur daran fast zerbrechenden Frau Rooney Mara großartig spielt, dafür wohl bereit wäre, würde die von Cate Blanchett gewohnt souverän gespielte Carol damit wohl den Ausschluss aus der Upper-Society riskieren.

So kehrt "Carol" am Ende nicht nur – jetzt aber mit geänderter Perspektive - zum Treffen der beiden Frauen im Restaurant zurück, sondern lässt auch noch zwei Szenen folgen, um mit einem letzten Blick zu enden, der nun weniger von Begehren als vielmehr von Unterordnung unter die gesellschaftlichen Regeln erzählt – und damit auch von einer Verdrängung der eigenen Identität und somit einem Verzicht auf echtes Glück.


Wonderstruck (2017): Todd Haynes verknüpft in seiner Verfilmung von Brian Selznicks Kinderbuch in souveräner Parallelmontage zwei 1927 und 1977 spielende Erzählstränge, die selbstverständlich gegen Ende zusammengeführt werden. Mehr als die im Grunde einfach gestrickte und vor allem am Ende sentimentale Geschichte begeistert die Meisterschaft, mit der Haynes und sein Team die unterschiedlichen Zeiten zum Leben erwecken und wie der Amerikaner im Subtext eine Hommage an die menschliche Kultur und eine Reflexion über die Vergänglichkeit einfließen lässt.

Die Handlung von "Wonderstruck", zu dem Brian Selznick, der Autor des 2011 erschienenen gleichnamigen Kinderbuchs, auch selbst das Drehbuch schrieb, ist im Grunde sehr einfach: Während 1927 die etwa zehnjährige taubstumme Rose vor ihrem autoritären Vater aus dem großen Landhaus in Hoboken/New Jersey mit der Fähre nach New York flieht, um ihre Mutter zu suchen, haut 1977 der zwölfjährige Ben, der nach einem Blitzschlag ebenfalls taub ist, in Gunflint, Minnesota aus dem Krankenhaus ab, um in New York seinen ihm unbekannten Vater zu suchen, über den ihm seine verstorbene Mutter nie etwas erzählt hat. Vorhersehbar ist, dass diese beiden Erzählstränge, die in brillanter Montage zunehmend fester zusammengezurrt werden, früher oder später vollends zusammengeführt werden, und absehbar ist auch das rührselige Ende.

Spannender als die Story ist folglich einerseits, wie Todd Haynes diese erzählt, andererseits, welche Themen er darin verpackt. So meisterhaft der Amerikaner mit seinem Team in seinen Melodramen "Far from Heaven" und "Carol" die Atmosphäre der 1950er Jahre evozierte, so virtuos lässt er nun den Zuschauer in die späten 1920er und 1970er Jahre eintauchen.

Er erinnert nicht nur mit einem Ausschnitt aus dem fiktiven Stummfilmmelodram "Daughter of the Storm", das Rose im Kino sieht, an diese Epoche des Kinos, speziell an die Melodramen von David W. Griffith, sondern inszeniert die 1927 spielende Handlung auch noch nicht nur in Schwarzweiß, sondern gleich auch als Stummfilm. Indem er auf jeden Dialog verzichtet und ganz auf die Bilder sowie den fantastischen Soundtrack von Carter Burwell vertraut, lässt er den Zuschauer auch die Wahrnehmung der taubstummen Rose nachempfinden.

Gleichzeitig erweckt er im zweiten Erzählstrang mit Kleidung, für die wieder einmal die mit drei Oscars ausgezeichnete Kostümbildnerin Sandy Powell verantwortlich zeichnet, Autos, Frisuren, aber auch mit Farben, Licht, Filmbeschaffenheit und zahlreichen Details von einem Plakat zur TV-Serie "Starsky & Hutch" über Buchtitel wie "Roots" und Songs von David Bowies "Major Tom" bis Sweets "Fox on the Run" die 1970er Jahre zum Leben.

Selbstzweck bleibt dabei die liebevolle und mit ihrem Detailreichtum begeisternde Rekonstruktion vergangener Zeiten, die auch das Verdienst von Kameramann Ed Lachman ist, aber nie, sondern führt vielmehr zum Kern des Films. Mag es an der Oberfläche auch um die Sehnsucht nach Geborgenheit und Familie sowie nach Freundschaft gehen, so verweist die Begeisterung Bens für die Astronomie ebenso wie ein Meteorit im Naturhistorischen Museum von New York, das sowohl Rose als auch Ben aufsuchen, auf den Kontrast zwischen der Unendlichkeit des Kosmos und der Endlichkeit des Menschen.

Schon in der Konzeption mit den beiden 50 Jahre getrennten Erzählsträngen ist diese Komponente der Vergänglichkeit und des Wandels dem Film eingeschrieben, gleichzeitig spielt Haynes aber auch durchgängig mit den Relationen. Denn so klein der Mensch im Kosmos sein mag, so verloren er – speziell ein Kind - auch in der Metropole New York sein mag, so groß ist er dann doch wieder, wenn die Protagonisten im Finale im Queens Museum über das fantastische Modell des Big Apple steigen.

In seinen ausgiebigen Szenen im Naturhistorischen Museum und dann im Queens Museum, aber auch in der Rolle, die hier Museumskuratoren spielen, oder einer Buchhandlung als wichtigem Schauplatz ist diese Wundertüte von einem Film so als Hommage an die Leistungen und die Bedeutung der menschlichen Kultur zu lesen. Gleichzeitig ist das speziell mit dem Modell des Big Apple auch eine große Liebeserklärung an New York, an dessen legendären Blackout 1977 ebenso erinnert wird wie an die Weltausstellung 1964.

Doch "Wonderstruck" spielt nicht nur in Museen, sondern ist in der Art, wie er vergangene Zeiten und deren Kultur zum Leben erweckt und in Erinnerung ruft in gewisser Weise auch selbst ein musealer Film. Nicht nur die Stummfilmzeit und beiläufig die Wende zum Tonfilm wird beschworen, sondern auffallend oft und deutlich werden in der 1970er Jahre Handlung auch Schallplatten auf- oder eine Kassette in einen Rekorder eingelegt. Unübersehbar oder vielmehr unüberhörbar ist auch die Reminiszenz und Hommage an Kubricks "2001", wenn sich zu dessen zentralem musikalischen Motiv «Also sprach Zarathustra» die Aufklärung des Zusammenhangs der 50 Jahre voneinander getrennten Ereignisse anbahnt.

Hinreißend wird dabei in Puppenanimation mit Blick auf das New York-Modell Ben seine Familiengeschichte gerafft vermittelt, und auch der Grund für seinen Alptraum von Wölfen, mit dem der Film einsetzte, wird hier schließlich verständlich.



Dark Waters – Vergiftete Wahrheit (2019): Todd Haynes zeichnet den mühsamen Kampf des Anwalts Robert Bilott gegen den amerikanischen Chemie-Giganten DuPont nach, der durch jahrzehntelange Kontaminierung des Wassers die Gesundheit zahlreicher Amerikaner schwer schädigte. – Ein nüchterner, exzellent besetzter und extrem dichter, auf Tatsachen beruhender Thriller.

Nicht unbedingt die erste Wahl für einen Thriller um einen Umweltskandal scheint Todd Haynes zu sein, der mit "Far from Heaven" und "Carol" Meisterwerke des modernen Melodrams schuf. Doch der 59-jährige Amerikaner beweist mit "Dark Waters" seine Wandlungsfähigkeit und stemmt auch dieses Projekt scheinbar mühelos.

So ungewöhnlich dieser Thriller, der auf einem 2016 erschienenen Artikel der New York Times aufbaut, für den Regisseur ist, so typisch ist er für die Produktionsgesellschaft Participant. Seit der Gründung 2004 ist man dort auf kritische Produktionen zur amerikanischen Realität fokussiert. Der Bogen der Filme, die durch Participant ermöglicht wurden, spannt sich von George Clooneys kritischem Blick auf die McCarthy-Ära in "Good Night, and Good Luck" (2005) über Niki Caros Sozialdrama "North Country – Kaltes Land" (2005) und Laura Poitras Edward Snowden-Doku "Citizenfour" (2014) bis zu Tom McCarthys "Spotlight" (2015) und Steven Spielbergs "The Post" (2017).

Wie prädestiniert ist die Geschichte des Kampfes des Anwalts Robert Bilott (Mark Ruffalo) gegen den amerikanischen Chemie-Giganten DuPont für Participant. Abweisend reagiert Bilott zwar zunächst auf die Bitte eines Viehzüchters aus seiner Heimatstadt, DuPont zu klagen, da seine Rinder seiner Meinung nach durch eine angrenzende Mülldeponie erkranken und schließlich verenden. Als Wirtschaftsanwalt, der gerade Chemiekonzerne vertritt, will Bilott nichts damit zu tun haben, doch die Sache lässt ihn nicht los.

So sucht er den Viehzüchter auf und der Lokalaugenschein schürt den Verdacht eines Umweltskandals. Immer mehr verbeißt sich Bilott in den Fall, durchforstet Unmengen an Akten und zerrt DuPont schließlich vor Gericht.

Mit Zeitinserts, die sich von den 1990er Jahren bis 2017 ziehen, macht Haynes deutlich, wie mühsam der Kampf gegen diesen Chemiekonzern, der sogar von der Regierung geschützt wurde, war. Keine großen Gerichtszenen stehen dabei im Zentrum, sondern vielmehr das mühsame Aktenstudium Bilotts und sein zermürbender Versuch Licht in die Sache zu bringen. Lange dauert es hier schon, bis er durchschaut, dass sich hinter der Abkürzung PFOA Perfluoroctansäure verbirgt, das bei der Herstellung von Teflon-Pfannen, Teppichen und Outdoor-Kleidung verwendet wird, aber hochgradig krebserregend ist.

Gerade in der nüchternen Inszenierung entwickelt "Dark Waters" seine Intensität und Spannung. In der 1975 spielenden Auftaktszene, in der drei Teenager nachts über einen Zaun klettern und in einem See baden, bis sie von Arbeitern vertrieben werden, spielt Haynes zwar ebenso unübersehbar mit der Auftaktszene von Steven Spielbergs Welthit "Jaws" wie in einer Tiefgaragenszene mit einem klassischen Thrillermoment, bricht aber dabei die damit geschürten Erwartungen: An klassischen Filmthrill und Filmhorror soll der Zuschauer zwar denken, die Variation soll aber bewusst machen, dass es hier eben um den realen Horror eines Umweltskandals geht

Mit verwaschenen Grau- und Blautönen, kaltem Licht und kahler Landschaft erzeugt Ed Lachman, der schon bei Haynes "Far from Heaven", "Carol" und zuletzt "Wonderstruck" die Kamera führte, eine beklemmende Atmosphäre. Etwas seltsam mutet freilich an, dass trotz des zeitlich breiten Erzählrahmens beinahe jede Szene im frostigen Winter spielt.

Gering wiegt dieser Einwand aber, denn durch die treibende Musik von Marcelo Zarvos und das dicht aufgebaute Drehbuch (Mario Correa und Matthew Michael Carnahan), das mit der familiären Situation von Bilott und den physischen Auswirkungen seines extremen Stresses auch für einen persönlichen Background sorgt, baut Haynes durchgehend große Spannung auf. Zu verdanken ist dies freilich auch einem von Mark Ruffalo angeführten, bis in die Nebenrollen hinein perfekt gecasteten Ensemble. Weil Ruffalo diesen Anwalt, der 2017 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde, dabei so zurückhaltend spielt, wird auch jede Heroisierung vermieden.

Auch der Umstand, dass der Ausgang des Kampfes von Bilott schon bekannt oder leicht zu recherchieren ist, tut der Wirkung von "Dark Waters" keinen Abbruch. Denn über den konkreten Kampf dieses Anwalts gegen den scheinbar übermächtigen Chemiekonzern hinaus erzählt "Dark Waters" zeitlos und universell von Zivilcourage und bedingungslosem Einsatz für die Schwachen, die nicht gehört und beachtet werden.

Unaufdringlich wird dabei nicht nur ein Bild der großen gesellschaftlichen Kluft in den USA gezeichnet, sondern auch dem Karrieredenken und der Profitgier von Anwälten, die – wie zunächst auch Bilott – vorzugsweise große Konzerne vertreten, der Einsatz für Gerechtigkeit gegenübergestellt. Andererseits verdichtet Haynes geschickt die Vielzahl der Menschen, die durch die Umweltsünden DuPonts an Krebs erkrankten und starben, auf wenige Charaktere, deren Schicksale emotional bewegen.

Das Kino wird mit "Dark Waters" damit sicher nicht neu erfunden, denn ganz in der Nachfolge klassischer Thriller wie Alan J. Pakulas Watergate-Film "All the President´s Men" oder Michael Manns "Insider" bewegt sich dieser Film. Wenn aber so perfekt wie hier auf diesem Instrumentarium gespielt wird, dann wird immer noch starkes Kino geboten, das nicht nur perfekt unterhält, sondern auch Missstände einem breiten Publikum bekannt macht und mit dem Engagement Bilotts zeigt, wie man dagegen Widerstand leisten kann und muss.


Trailer zu "I´m Not There"










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