Dem negativen Image des Lehrberufs stellt Thomas Lilti das Engagement eines Kollegiums an einem französischen Gymnasium gegenüber und zeigt die vielfältigen Herausforderungen dieses Berufs: Ein von einem fulminant aufspielenden Ensemble getragener und dynamisch inszenierter, mitreißender Spielfilm.
Nachdem Thomas Lilti nach seiner Ausbildung zum Arzt in seinen ersten Spielfilmen "Hippocrate" (2014), "Médecin de campagne" ("Der Landarzt von Chaussy", 2016) und "Première Année" (2018) empathische Bilder des Arztberufs zeichnete, wendet er sich nun dem Beruf der Lehrer:innen zu. Dem schlechten Image, das diese Berufsgruppe in der Öffentlichkeit vielfach genießt, den Vorwürfen von Halbtagsjob und endlos langen Ferien, stellt er die Leistungen von Lehrer:innen, deren Empathie und die Herausforderungen, die die Arbeit mit Teenagern stellt, gegenüber.
Schulfilme gibt es zahlreiche und unterschiedlichste. Mal stehen inspirierende Lehrerfiguren im Zentrum wie in Peter Weirs "Der Club der toten Dichter" (1989), mal wird die Schule als repressives System gezeichnet wie in Jean Vigos "Zéro de conduite" (1933) oder Lindsay Andersons "If…" (1968), mal geht es um eine Klasse als multikulturellen Schmelztiegel wie in Laurent Cantets "Entre les murs – Die Klasse" (2008) oder der Fokus liegt auf der Interaktion zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen und dem Beglückenden des Erwerbs neuer Erkenntnisse wie in den Dokumentarfilmen "Herr Bachmann und seine Klasse" (2021) oder "Être et avoir – Sein und Haben" (2002). Ganz abgesehen davon gibt es natürlich noch zahllose Schulkomödien, denn Schule kennen einfach alle, haben alle genossen oder durchgestanden.
Thomas Lilti fokussiert nun ganz auf den Lehrer:innen, die Schüler:innen gewinnen mit Ausnahme eines besonders schwierigen Teenagers kein Profil, sondern bleiben ein Kollektiv. Auch bei den Lehrer:innen steht kein einzelner, sondern das vielfältige Kollegium im Zentrum.
Schon mit der ersten Szene zieht der 1976 geborene Franzose die Zuschauer:innen mitten in den Film hinein. Nah dran ist die Kamera von Antoine Héberlé, wenn die Biologielehrerin Sandrine (Louise Bourgoin) versucht, in ihrer Klasse für Ruhe zu sorgen. Von diesem ansatzlosen Einstieg wechselt Lilti zum Vorspann, dem schwarzweiße Film- und farbige TV-Bilder von Schulszenen sowie der Hit "Wonderful World" ("Don´t Know Much about History") unterlegt sind: Während die Bilder Assoziationen an die eigene Schulzeit wecken dürften, lädt die Musik die Szene emotional auf.
Mit Ende des Vorspanns kehrt "Un métier serieux" ans in einem Vorort von Paris gelegene Gymnasium Victor Hugo zurück. Der Klasse wird mit Benjamin ein junger Vertretungslehrer (Vincent Lacoste) vorgestellt. Laut ist es in seiner Stunde, sodass bald aus der Nachbarklasse der erfahrene Pierre (François Cluzet) auftaucht, der sich in seinem Unterricht gestört fühlt. Wie dieser ältere Kollege nun die Klasse im Handumdrehen im Griff hat, ist eine starke Szene.
Lilti zeigt aber auch, wie sich Benjamin langsam im Laufe des Schuljahres in diesem Beruf einfindet, wie er sicherer wird im Unterrichten und auch Freude daran findet. Aber auch ein schwerer Konflikt mit einem Schüler, der schließlich zu einer Diskussion über dessen Ausschluss führt, wird nicht ausgespart.
Eine andere Kollegin wiederum wird von der Inspektorin wegen ihres langweiligen Unterrichts runtergemacht, während der Direktor vor allem am Ruf der Schule interessiert ist. Stütze und Halt für die Lehrer:innen im Spannungsfeld zwischen Jugendlichen in einem schwierigen Alter und der Obrigkeit sind so die Kolleg:innen.
Mit Leidenschaft feiert Lilti die Bedeutung des Zusammenhalts, der Empathie und der gegenseitigen Unterstützung der Lehrer:innen. Eindrücklich vermittelt er, welchen Stress die Arbeit mit vielfach desinteressierten Jugendlichen darstellt, spart aber auch private Probleme der Lehrer:innen nicht aus. Da wird die junge Meriem (Adèle Exarchopoulos) als alleinerziehende Mutter am Abend durch ihren Sohn im Volksschulalter gefordert, während der ältere Pierre mit seinem Sohn wegen dessen Versagen bei einer Prüfung nicht mehr spricht und Sandrine hat schwere Probleme mit ihrem rebellischen 16-jährigen Sohn. Andererseits hat Junglehrer Benjamin einen ungeklärten Konflikt mit seinem Vater. - So ziehen sich beiläufig Eltern-Kind-Beziehungen durch den Film.
Aber dazwischen gibt es eben immer wieder auch lustige und glückliche Momente von den gemeinsamen Autofahrten von der Schule zum Bahnhof über die gemeinsamen Mahlzeiten in der Kantine oder ein Spieleabend der Kolleg:innen bis zu einer Sportwoche am Atlantik, bei der freilich auch Gefahren lauern.
Breit ausformuliert werden hier kein Aspekt und keine Szene, aber in dem kaleidoskopartigen Blick auf das Lehrer:innenleben ergibt sich ein ebenso dichtes wie vielfältiges Bild. Für Realismus sorgt dabei auch die visuelle Gestaltung mit leicht verwaschenen Farben, der Dominanz von Blautönen und kaltem Licht. Nichts wirkt hier geschönt, sondern direkt aus dem Leben gegriffen und echt fühlt sich dieser Film an, der auch auf große Plotpoints und dramatische Szenen verzichtet. Dennoch bleibt "Un métier sérieux" dank des empathischen Blicks von Lilti und des Witzes, der nicht zu kurz kommt, immer leichtfüßig und wird nie zum schweren Drama.
Neben der zupackenden und temporeichen Inszenierung, die die Zuschauer:innen mit nah geführter Kamera und schnellem Schnitt immer direkt am Geschehen teilhaben lässt, wird diese mitreißende Hommage an den Beruf von Lehrer:innen aber vor allem von einem großartigen Ensemble getragen. Bestens harmonieren hier Schüler:innen und Lehrer:innen und den Stars François Cluzet, Vincent Lacoste Adèle Exarchopoulos und Louise Bourgoin gelingt es großartig und sehr überzeugend in ganz unterschiedliche Lehrertypen zu schlüpfen.
Bezeichnend ist auch der Schluss, denn im Gegensatz zu anderen Schulfilmen stehen hier nach einem anstrengenden Jahr nicht die Ferien am Ende, sondern der Beginn eines neuen Schuljahrs mit Eintreffen der Schüler:innen und der Lehrer:innen, die sich wieder in ihre herausfordernde Arbeit stürzen.
Un métier sérieux Frankreich 2023 Regie: Thomas Lilti mit: Vincent Lacoste, François Cluzet, Adèle Exarchopoulos, Louise Bourgoin, William Lebghil, Lucie Zhang, Bouli Lanners Länge: 102 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Un métier sérieux"
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