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AutorenbildWalter Gasperi

Un petit frère


1989 emigriert eine junge Afrikanerin mit ihren zwei kleinen Söhnen nach Frankreich. – Léonor Serraille spannt in drei Kapiteln den Bogen über rund 20 Jahre und erzählt undramatisch, aber dank genauem Blick und authentischen Schauspieler:innen dicht und bewegend von prekären Lebensbedingungen, Mutterliebe und Aufwachsen in der Fremde.


Das retrospektive Voice-over von Ernest leitet Léonor Serrailles nach "Jeune femme" (2017) zweiten Spielfilm ein. Als junger Mann erinnert er sich, wie er als Fünfjähriger mit seinem neunjährigen Bruder Jean und seiner Mutter Rose (Annabelle Lengronne) nach Frankreich kam. Doch nur kurz ist dieses Voice-over, wird in der Folge nur noch am Ende oder am Beginn der drei Kapitel, in die "Un petit frère" gegliedert ist, eingesetzt und abgesehen vom Insert "1989" am Beginn wird es auch keine weitere Zeitangabe geben, obwohl sich die Handlung über rund 20 Jahre spannt.


Steht im ersten, "Rose" überschriebenen Abschnitt die Mutter im Zentrum, so wird in den folgenden der Fokus auf den Brüdern liegen. Nah folgt Kamerafrau Hélène Louvart dieser kleinen Familie, ganz auf sie fokussiert der Film. Wenn die Mutter den beiden Söhnen schon früh einimpft, dass sie nie öffentlich weinen dürfen und Ernest antwortet, dass sie dann wohl nur im Kopf weinen sollen, wird spürbar, wie viele schmerzhafte Gefühle hier verdrängt werden, wie viel Entschlossenheit und Durchhaltevermögen dieses Leben in der Fremde zunächst vor allem von der Mutter verlangt.


Sie selbst arbeitet als Reinigungskraft in Hotels, Unterkunft findet das Trio vorübergehend bei einem afrikanischen Paar. Fast spürbar ist die Enge, in der sie leben und die Hoffnung, dass sich die Bedingungen bald einmal bessern werden und sie sich mehr leisten können.


Die Kinder gehen für Rose über alles. Immer wieder fordert sie sie auf, in der Schule alles zu geben und mindestens gleich gut zu sein wie die anderen. Einzig in der entsprechenden Bildung sieht sie eine Chance, dass Jean und Ernest es einmal besser haben werden. Gleichzeitig möchte sie aber auch ein eigenes Leben führen, geht mehrere Beziehungen mit Männern ein und wird aus Liebe zu dem verheirateten Weißen Thierry mit ihren Söhnen auch von Paris nach Rouen ziehen.


Kein Opfer ist diese von Annabelle Lengronne authentisch und intensiv gespielte Rose, sondern eine Kämpferin, die sich nicht von den äußeren Bedingungen unterkriegen lässt, sondern ihre Freiheit bewahrt und selbst Entscheidungen trifft. Nur angedeutet werden bittere Erfahrungen mit ihren beiden verstorbenen Ehemännern in ihrer afrikanischen Heimat, nochmals wird sie sich aber nicht in diese Abhängigkeit zwängen lassen.


Mit genauem Blick schildert Serraille, die keinen migrantischen Background hat, im ersten Kapitel den Alltag der Mutter und rückt in den folgenden Kapiteln den schon fast erwachsenen Jean und dann den erwachsenen Ernest ins Zentrum. Mit großen Ellipsen treibt sie die Handlung nicht nur voran, sondern diese Auslassungen verhindern auch übermäßige Dramatisierung und sorgen für eine nüchterne Erzählweise. Dennoch bleibt die große Empathie für Mutter und Söhne durchgängig spürbar.


Gleichzeitig gelingt es der 37-jährigen Regisseurin durch die große Zeitspanne und die Perspektivenwechsel einen facettenreichen Einblick in dieses Leben in der Fremde zu bieten. Denn während die Mutter sich ganz auf die Kindererziehung und materiellen Aufstieg durch Arbeit konzentriert, scheint sich Jean, der zunächst ein Musterschüler ist, in der weißen Mehrheitsgesellschaft zunehmend fremd und als Außenseiter zu fühlen.


Ernest wiederum scheint die Integration zu gelingen, gleichwohl erfährt er Alltagsrassismus, wenn er – wohl nur aufgrund seiner dunklen Hautfarbe – von zwei Polizisten perlustriert wird, als er einmal kurz seine Wohnung verlässt.


In der episodischen Struktur wird keine große Kinogeschichte entwickelt und nichts Spektakuläres passiert, doch die einzelnen Teile fügen sich auch zu einer vielschichtigen Familiengeschichte. Denn so nah sich Mutter und Söhne am Anfang sind, weil sie nur sich selbst haben und die Kinder ganz auf die Mutter angewiesen sind, so sehr driften sie in späteren Jahren auseinander. Nicht alles formuliert Serraille dabei aus, sondern überlässt mit Leerstellen geschickt vieles der Fantasie des Publikums.


Durch den ruhigen und geduldigen Blick gelingen dabei in den Auseinandersetzungen und Begegnungen der Protagonist:innen auch dank Stéphane Bak und Ahmed Sylla, die die erwachsenen Jean und Ernest mit großer Natürlichkeit spielen, immer wieder bewegende Szenen. Aber auch dass Serraille kaum Szenen mit Musik unterlegt, sondern diese vorwiegend pointiert in dialoglosen Momenten einsetzt und damit quasi Pausen im Erzählfluss setzt, trägt nicht unwesentlich zum teilweise quasidokumentarischen Gestus bei.


Gleichzeitig macht die Musik mit klassischen europäischen Stücken beispielsweise von Johann Sebastian Bach auf der einen und afrikanischen Klängen auf der anderen Seite aber auch wieder das Spannungsfeld und die Zerrissenheit zwischen der ursprünglichen Heimat und Frankreich spürbar.


Un petit frère Frankreich 2022 Regie: Léonor Serraille mit: Annabelle Lengronne, Ahmed Sylla, Stéphane Bak, Kenzo Sambin, Laetitia Dosch, Sidy Fofana, Milan Doucansi, Audrey Kouakou Länge: 116 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.


Trailer zu "Un petit frère"


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