In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts kommt ein russischer Kartograf und Geologe in den Schweizer Jura, wo ihn die anarchistische Einstellung der Arbeiterinnen in der Uhrenindustrie fasziniert: Das Setting ist historisch, doch Cyril Schäublin verhandelt in seinem formal strengen Film ebenso unaufdringlich wie klug auch aktuelle Themen.
Cyril Schäublin, der selbst aus einer Uhrmacherfamilie stammt, stellt seinem nach "Dene wos guet geit" zweiten Spielfilm ein Zitat des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin (1842 - 1921) voran. Darin erklärt dieser, dass er nirgends für den Anarchismus so offene Menschen gefunden habe wie in der Uhrenindustrie im Schweizer Jura und dass diese ihn entscheidend geprägt hätten.
Nach einem Prolog, in dem sich mehrere vornehme russische Damen über Anarchismus und Kommunismus und den Gegensatz von Dezentralisierung der Macht und Herrschaft des Staates unterhalten, setzt die Haupthandlung im Schweizer Jura ein. Pyotr Kropotkin (Alexei Evstratov) kommt in diese Gegend, um sie als Kartograf und Geologe zu vermessen. Doch mehr als diese Tätigkeit interessiert ihn bald die anarchistische Haltung der Arbeiter*innen in der Uhrenindustrie. Fasziniert ist er vor allem von der jungen Josephine Gräbli (Clara Gostynski), die für die Herstellung der Unruhe, die das Uhrwerk am Laufen hält, zuständig ist.
Kein klassischer Kostümfilm, der auf prächtige Ausstattung setzt, ist dies, sondern Kulissen und Kostüme sind bewusst reduziert gehalten. Kühl und spröde ist die Inszenierung, die an die Filme Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets erinnert. Weitgehend statisch bleibt die Kamera von Silvan Hillmann und, während sie die Menschen meist in langen, distanzierten Einstellungen erfasst, ist sie bei Blicken auf die Feinarbeit am Uhrwerk ganz nah am Geschehen.
Irritierend ist dabei nicht nur der Bildausschnitt, durch den man die Charaktere immer nur bis etwa zu den Knien, nie aber ihre Füße sieht, sondern auch, dass auch in der Totale die Dialoge in normaler Lautstärke zu hören sind. Dazu kommt, dass Schäublin auf jede extradiegetische Filmmusik verzichtet und die Farbpalette weitgehend auf blasse Braun-, Beige- und Grautöne reduziert ist.
Auf Distanz gehalten werden die Zuschauer*innen aber auch durch den Verzicht auf jede Psychologisierung und jeden Background der Charaktere. Nicht Emotionalisierung ist das Ziel, sondern vielmehr soll mit der nüchternen, aber präzisen Inszenierung Einblick in diese Umbruchszeit mit zunehmender Reglementierung der Arbeit durch neue Erfindungen und die Ausbeutung der Arbeiter*innen durch die Industriellen, aber auch den wachsenden Widerstand der Arbeiterschaft vermittelt werden.
Mit leiser Ironie schildert Schäublin dabei eine Zeit des technischen und damit auch gesellschaftlichen Umbruchs. Denn es wird nicht nur die Welt vom Kartografen genau vermessen, sondern mit der Uhrenindustrie gewinnt auch die genaue Bemessung der Zeit an Gewicht. Noch gibt es hier mit der Kirchenzeit, der Telegrafenzeit, der Gemeindezeit und der Fabrikzeit verschiedene Zeitmess-Systeme, doch absehbar ist, welches System sich durchsetzen wird, wenn mit Stoppuhr gemessen wird, wie lange die Arbeiter*innen für gewisse Arbeitsschritte benötigen.
Dazu kommt als weitere Neuerung die internationale Vernetzung mittels Telegrafie. Damit kann aber nicht nur der Industrielle seine Angebote rasch weltweit verschicken und Anfragen entgegennehmen, sondern die Schweizer Anarchist*innen können auch ihre finanzielle Unterstützung eines Streiks in den USA problemlos und rasch kommunizieren.
Und schließlich breitet sich auch die Fotografie aus. Mittels dieser wird nicht nur ein Werbekatalog für die Uhrenproduktion erstellt, sondern auch private Porträtfotos und solche von Berühmtheiten erfreuen sich großer Beliebtheit. Gleichzeitig können Arbeiter*innen auf den Fotos aber wiederum als Anarchist*innen ausgemacht und gekündigt werden.
Am Schnittpunkt zum durchgetakteten und streng reglementierten Arbeitsprozess spielt so "Unrueh", dessen Titel vieldeutig auf die technischen Neuerungen, aber auch auf die Unruhe und schwelende Opposition der Arbeiter*innen verweist.
So historisch der Film dabei ist, so sehr ist er auch auf der Höhe der Zeit mit dem Blick auf Optimierung der Arbeit und Erhöhung des Leistungsdrucks aber auch, wenn der Firmenchef aufgrund einer wirtschaftlichen Krise für eine ausländische Armee zu produzieren beginnt, die Arbeiter aber dagegen – zumindest leise – protestieren.
Gleichzeitig stellt Schäublin Machtanspruch und Nationalismus der Kapitalisten dem Internationalismus und Egalitarismus der Anarchisten gegenüber. Während erstere so die alte Schweizer Hymne singen, beschwören die anderen den Zusammenhalt der Arbeiterschaft über alle nationalen Grenzen hinweg. Eine Ablehnung erfährt dabei auch die Pflege nationaler Traditionen, wenn die Arbeiterschaft die Aufführung einer Nachstellung der Schlacht von Murten ablehnt.
Geduld verlangt dieser Film in seiner entschleunigten und unaufgeregten Erzählweise, besticht aber durch die Genauigkeit, mit der diese Umbruchszeit und der Antagonismus von Kapitalismus und Anarchismus durchleuchtet wird. Lässt man sich darauf ein, so erlebt man einen formal außergewöhnlichen und mit großer Konsequenz inszenierten Film, der mit seinem inhaltlichen Reichtum spannende Einsichten bietet, aber auch zum Nachdenken über eine mögliche andere Entwicklung der Welt anregt.
Unrueh - Unruh Schweiz 2021 Regie: Cyril Schäublin mit: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor, Valentin Merz, Laurence Bretignier, Laurent Ferrero Länge: 93 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan - ab 5.1. in den deutschen und österreichischen Kinos
Trailer zu "Unrueh"
Comentários