In grandiosen Landschaftstotalen erzählt Alejandro Loayza Grisi von einem alten Paar, dessen Leben im bolivianischen Altiplano aufgrund der Trockenheit zunehmend schwieriger wird. – Ein wortkarger, aber bildstarker Film, der eindringlich die Auswirkungen der Klimaveränderung auf am Rand der Welt gelegene indigene Kulturen bewusst macht.
Irreal wirkt die erste Einstellung, in der man einen Mann auf einer endlosen Ebene sieht, die dunklen Wolken aber so tief hängen, dass nur ein schmaler Schlitz mit Licht bleibt. Himmel und Erde fallen in diesem Bild beinahe zusammen, den kleinen hellen Bereich dazwischen kann man als Metapher für die Kürze des menschlichen Lebens lesen.
Von diesem Auftakt schneidet Alejando Loayza Grisi auf Virginio (José Calcina) und Sisa (Luisa Quispe), die in ihrem bescheidenen Lehmhaus nebeneinander in den Betten liegen. Am Rande der Hochebene lebt das alte Paar. Während die meisten anderen Bewohner*innen das Dorf verlassen haben, will speziell Virginio nicht in die Stadt ziehen, sondern hier bleiben: "Utama" - sein Zuhause ist diese Gegend eben.
Doch das Leben wird aufgrund der lang anhaltenden Trockenheit zunehmend schwieriger. Lange Risse durchziehen die ausgedörrte Erde, der Brunnen der Hütte ist ebenso versiegt wie der im Dorf. Wie die Risse in der Erde macht auch das Quietschen der Pumpe des Brunnens die Trockenheit fast physisch spürbar.
Bis zum Fluss, der nur noch ein größeres Rinnsal ist, muss so Sisa gehen, um Wasser zu holen. Nach rund 15 Minuten kommen dort erstmals andere Menschen – einige Frauen – ins Bild. Denn Wasserholen ist Frauenarbeit und klar geregelt sind für Virginio die Aufgaben. Während Sisa sich um den Haushalt kümmern muss, bringt er ihre Lamas zu den Weiden. Immer früher muss er dabei freilich aufbrechen, denn immer weiter muss er ziehen, um im kargen Hochland Weideflächen zu finden.
Mit den beiden Arbeitsbereichen wechselt "Utama" auch immer wieder zwischen Innen und Außen und zwischen Großaufnahmen und faszinierenden Landschaftstotalen des von fernen Bergen begrenzten 3600 hoch gelegenen Altiplano. Wie das Paar verlässt auch der Film nie diese Gegend, macht sie zu seiner Welt.
Ruhig ist der Erzählrhythmus, geredet wird nur wenig, zurückgenommen ist auch der Musikeinsatz. Loayza Grisi vertraut auf die Kraft der Bilder, die Weite der Landschaft ebenso wie die ausdrucksstarken von Sonne und Alter gegerbten Gesichter seiner beiden Laiendarsteller José Calcina und Luisa Quispe, die auch im realen Leben ein Paar sind.
Bewegung kommt in dieses Leben, als der etwa 17-jährige Enkel Clever (Santos Choque) auftaucht. Die Moderne bricht damit quasi in diese archaische Welt ein, in der es keine Elektrizität, keine Autos und keine Smartphones gibt. Sichtbar wird dieses Spannungsverhältnis auch dadurch, dass das Paar in Quechua spricht, Clever aber nur Spanisch versteht. Er möchte seine Großeltern bewegen in die Stadt zu ziehen, doch Virginio will nichts davon wissen und will auch trotz seines heftigen Hustens keinen Arzt aufsuchen.
Auch Sisa hat längt erkannt, was für ein Dickkopf und Griesgram ihr Mann ist, dennoch führen sie eine harmonische Beziehung, während die Sturheit Virginios offensichtlich zum Bruch mit ihrem Sohn führte. Auch von Clever hält er nicht viel, reagiert ihm gegenüber abweisend und barsch. Als doch ein Arzt kommt und ihm Schmerztabletten gibt, wirft er diese wenig später weg: Virginio ist sich seines nahen Todes durchaus bewusst, will ihn nicht hinauszögern, sondern erwartet ihn ruhig in seinem vertrauten Umfeld.
Gewissermaßen ein Gegenstück zu "Aga – Nanouk" (2018), in dem Milka Lazarovs vor vier Jahren vom Leben eines alten indigenen Paares in der Schneewüste Sibiriens erzählte, ist "Utama". Hier wie dort steht die Beziehung eines Paares im Zentrum und hier wie dort geht es um die Veränderung der Lebensbedingungen und das Verschwinden des Alten. Nie wird dabei groß von Klimaveränderung gesprochen, aber deren Auswirkungen auch auf die Ränder der Welt werden am Leben der Bewohner*innen des Altiplano eindrücklich sichtbar.
Auf Zuspitzung und Dramatisierung verzichtet Loayza Grisi in seinem beim Sundance Film Festival 2022 mit dem großen Preis der Jury ausgezeichneten Spielfilmdebüt. Er erzählt lakonisch und einfach, aber durch den ebenso genauen wie geduldigen Blick auf diese Lebenswelt, die Authentizität der Laienschauspieler*innen und die grandiosen Cinemascope-Bilder der uruguayisch-argentinischen Kamerafrau Bárbara Álvarez entwickelt "Utama" eine Kraft und eine Intensität, denen man sich nicht entziehen kann.
Utama Bolivien / Uruguay / Frankreich 2022 Regie: Alejandro Loayza Grisi mit: José Calcina, Luisa Quispe, Santos Choque, Candelaria Quispe, Placide Alí, Félix Ticona, René Calcina Länge: 87 min.
Läuft ab Donnerstag, 23.6. in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Utama"
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