Musste man befürchten, dass das 80. Filmfestival von Venedig (30.8. – 9.9. 2023) aufgrund des Streiks der Schauspieler:innen in Hollywood auf große US-Filme verzichten muss, so zeigt das Line-up doch ein anderes Bild: Neben Yorgos Lanthimos, Ryusuke Hamaguchi, Stéphane Brizé laufen auch neue Filme von Bradley Cooper, Michael Mann, Sofia Coppola und David Fincher im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.
Als letzte Woche bekannt gegeben wurde, dass Luca Guadagninos schon als Eröffnungsfilm fixierter "Challengers" aufgrund des Streiks in Hollywood und einer Verschiebung des Starttermins auf Frühjahr 2024 durch Edoardo de Angelis Weltkriegsfilm "Commandante" ersetzt wird, musste man schon befürchten, dass weitere für Venedig gehandelte US-Produktionen entfallen.
Doch der künstlerische Leiter Alberto Barbera konnte bei der Programmpräsentation beruhigen, dass "Challengers" der einzige Film gewesen sei, auf den man verzichten musste. Folgende Festivals werden hier den Streik wohl stärker zu spüren bekommen. In Venedig konnte man aber noch aus dem Vollen schöpfen – nicht zuletzt deshalb, weil man hier im Gegensatz zu Cannes auch Netflix-Produktionen in den Wettbewerb aufnimmt.
Gleich dreifach ist der Streaming-Gigant so im Löwen-Rennen vertreten. Neben David Finchers mit Spannung erwartetem Thriller "The Killer" wurde auch Bradley Coopers Leonard Bernstein-Biopic "Maestro" und Pablo Larrains "El Conde", in dem der chilenische Diktator Augusto Pinochet als Vampir dargestellt wird, ausgewählt.
Neben Cooper und Fincher finden sich mit Sofia Coppola, die mit ihrem Biopic über die Elvis-Presley-Gattin Priscilla ("Priscilla") eingeladen wurde, Michael Mann, der acht Jahre nach dem Thriller "Blackhat" mit einem Film über die Ferrari-Dynastie ("Ferrari") ins Kino zurückkehrt, und Ava DuVernay mit "Origin" sind drei weitere US-Regisseur:innen im Wettbewerb vertreten.
Zumindest zahlenmäßig stark präsent ist am Lido natürlich auch immer das italienische Kino. Neben Edoardo de Angelis´ "Commandante" wurden so auch Saverio Costanzo mit "Finalmente L´Alba", Pietro Castellitto mit "Enea" und Giorgio Diritti mit "Lubo" eingeladen. Der bekannteste Name ist hier aber Matteo Garrone, der "Io Capitano" zeigt.
Gespannt sein darf man aber auch auf Luc Bessons "Dogman", Michel Francos "Memory" und Bertrand Bonellos "La Bete". Hohe Erwartungen wecken aber nach ihren letzten Filmen vor allem Yorgos Lanthimos, der auf "Killing of a Sacred Deer" und "The Favourite" "Poor Things" folgen lässt, Stéphane Brizé, der nach seinen bestechenden Blicken auf die Arbeitswelt in "La loi du marche" "En guerre - Streik" "Un autre monde" mit "Hors saison" an seinen Liebesfilm "Mademoiselle Chambon" anzuknüpfen scheint, und vor allem der Japaner Ryusuke Hamaguchi, der sich nach seinem Meisterwerk "Drive My Car" mit "Evil Does Not Exist" zurückmeldet.
Für Überraschungen können aber auch der Deutsche Timm Kröger sorgen, der mit dem schwarzweißen Thriller "Die Theorie von Allem" in den Wettbewerb eingeladen wurde, oder die noch wenig bekannte Belgierin Fien Troch mit "Holly".
Erlesen sind aber auch die Namen, die außer Konkurrenz neue Filme zeigen. Wohl um größere Diskussionen zu vermeiden hat man so die neuen Filme der umstrittenen Regisseure Woody Allen und Roman Polanski in dieser Schiene positioniert. So wird die unter anderem mit Jane Campion, Laura Poitras, Damien Chazelle, Michael McDonagh und Mia Hansen-Love hochkarätig besetzte Jury von vornherein dem Dilemma enthoben, eventuell über die Preiswürdigkeit von Allens "Coup de Chance" oder Polanskis "The Palace" diskutieren zu müssen.
Aber auch William Friedkin meldet sich hier mit "The Caine Mutiny Court-Martial" nach mehr als zehn Jahren zurück, während Wes Anderson nur wenige Monate nach dem in Cannes präsentierten "Asteroid City" am Lido mit "The Wonderful Story of Henry Sugar" schon wieder ein neues, wenn auch nur 37-minütiges Werk präsentiert. Abgerundet wird die starke Präsenz der USA in dieser Schiene durch Richard Linklaters "Hit Man" und Harmony Korines "Aggro Drift".
Außer Konkurrenz präsentieren auch die 90-jährige Liliana Cavani, die mit einem Ehrenlöwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wird, mit "L´ordine del tempo" einen neuen Film sowie Cedric Kahn mit "Making of" und Quentin Dupieux mit "DAAAAAALI!". Nicht zu vergessen ist auch der große amerikanische Dokumentarfilmer Frederik Wiseman, der in "Menus plaisirs" ein französisches Haubenlokal durchleuchtet.
Und neben diesen großen Namen bietet die auf ästhetisch innovative Filme und noch unbekannte Regisseur:innen fokussierte Reihe "Orizzonti" sicherlich auch wieder die Möglichkeit der einen oder anderen Entdeckung einer Regisseur:in, die man in den kommenden Jahren dann im Hauptwettbewerb eines großen Festivals wiedersehen wird.
Spannend ist aber auch, welche Filme nicht für Venedig ausgewählt wurden und stattdessen wenige Tage später in Toronto ihre Weltpremiere feiern. Das betrifft unter anderem immerhin so renommierte Namen wie Alexander Paynes "The Holdovers", Ladj Lys "Les Indésirables", Atom Egoyans "Seven Veils", Michael Winterbottoms "Shoshana" und Kitty Greens "The Royal Hotel".
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