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AutorenbildWalter Gasperi

Viennale 2019: Produktive Reibungen

Aktualisiert: 31. Okt. 2019


Während der irische Photograph Seamus Murphy im Dokumentarfilm „A Dog Called Money“ die Aufnahme eines Albums der Sängerin PJ. Harvey mit Bildern aus Krisenregionen der Welt verknüpft, lässt der Tunesier Ala Eddine Slim in „Tlamess“ einen Mann und eine Frau aus der Gesellschaft ausbrechen und neue Rollen entwickeln.


Gegensätze prallen in Seamus Murphys Dokumentarfilm „A Dog Called Money“ aufeinander. Auf der einen Seite gibt es das abgeschottete Musikstudio bei London, das eigens für die Aufnahme eines neuen Albums der Sängerin PJ Harvey hergerichtet wurde, auf der anderen Seite Bilder aus dem zerstörten Kosovo, dem von Krieg erschütterten Afghanistan und dem armen afroamerikanischen Südosten von Washington, der in starkem Gegensatz zum reichen weißen Norden der amerikanischen Hauptstadt steht.


Seamus Murphy begleitete PJ Harvey auf Reisen in diese Regionen mit der Kamera, lässt den Zuschauer mit ihren Augen die Not und Zerstörung entdecken und zeigt, wie sich aus diesen Erfahrungen ihre Liedtexte entwickeln. So bietet „A Dog Called Money“, dessen Titel sich auf eine Bemerkung eines afroamerikanischen Jungen in Washington bezieht und als Songtitel in Harveys Album Eingang fand, einerseits Einblick in den künstlerischen Prozess, reflektiert aber gleichzeitig im Spannungsfeld von Produktion des Albums und Bildern aus Krisenregionen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der heutigen Welt.


Eindrücklich wird dabei aber auch das Bild einer zerrissenen USA gezeichnet, wenn der Gegensatz zwischen weißer Oberschicht und afroamerikanischer Unterschicht am Beispiel von Washington plastisch herausgearbeitet wird und im Finale der Begeisterung von Trump-Anhängern bei der Angelobung des 45. Präsidenten der USA Protestkundgebungen gegenübergestellt werden.


Dichte und Vielschichtigkeit gewinnt dieser Dokumentarfilm durch seine Montage, durch die meisterhaft der Einblick in die kreative Arbeit und die gesellschaftskritische Ebene verknüpft werden. Nicht genug damit, wird auf einer dritten Ebene auch noch der Zuschauer ins Spiel gebracht, denn der Aufnahme des Albums durfte das Publikum hinter einem Einwegspiegel hautnah folgen – ist aber gleichzeitig davon abgeschottet und vor allem von den Harvey prägenden Erfahrungen völlig getrennt. Lesen kann man dies auch als Bild für die riesige Kluft zwischen den Bewohnern der westlichen Welt und diesen Krisenregionen, die man nur medial kennt.


Gegensätze prallen auch in „Tlamess“ des 37-jährigen Tunesiers Ala Eddine Slim, dem bei der heurigen Viennale ein Schwerpunkt gewidmet ist, aufeinander. In fragmentarischen Szenen schildert Slim in seinem zweiten Spielfilm den Alltag eines Trupps von Soldaten, der sich scheinbar im Krieg gegen Terroristen befindet. Als der namenlos bleibende Protagonist nach dem Tod seiner Mutter Heimaturlaub bekommt, nutzt er diesen, um zu desertieren. Versteckt er sich zunächst in seiner Wohnung, flieht er in die Wälder, als Polizisten kommen, um ihn zu verhaften.


Abrupt bricht diese Handlung ab und Slim fokussiert nun auf einer jungen, westlich gekleideten Frau, die mit ihrem Mann in einem modernen Haus am Stadtrand wohnt. Während er sich über ihre Schwangerschaft freut, ist sie unglücklich und flieht ebenfalls bald aus der Zivilisation in den Wald, wo der desertierte Soldat sie zunächst als Gefangene nimmt, sie aber bald eine neue Gemeinschaft bilden, auch wenn sie nicht mit Worten, sondern nur über Blicke kommunizieren können.


Wie Slim weitgehend auf Dialog verzichtet, so verzichtet er auch auf Erklärungen und Hintergründe oder Einbettung in einen konkreten sozialen Kontext. Sein Film ist eine visuell eindrucksvolle und immer wieder von starker, fast schmerzend dissonanter Musik der französischen Gruppe Oiseaux-Tempête begleitete existentialistische Fluchtgeschichte, in der der Wald als magischer und ursprünglicher Ort erscheint, in dem ein völliger Neubeginn abseits gesellschaftlicher Konventionen und schließlich auch eine Umkehr der Geschlechterrollen möglich scheint.


Im Gegensatz zu den dezenten Reverenzen an Kubricks „Full Metal Jacket“ oder in den überschwemmten Räumen an Tarkowskijs „Stalker“ ist das explizite Zitat des schwarzen Monolithen aus „2001“ zwar etwas zu viel des Guten, aber insgesamt präsentiert sich Slim hier sicher als Regisseur, auf dessen weiteren Filme man gespannt sein darf.


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