Zwei große Dokumentarfilme bei der 59. Viennale: Kommentarlos begleitet Andrea Arnold in "Cow" über 90 Minuten hautnah den Leidensweg einer Kuh, während Maria Speth in "Herr Bachmann und seine Klasse" über 217 Minuten die Interaktionen in einer multikulturellen Grundschulklasse dokumentiert.
Der Titel von Andrea Arnolds erstem Dokumentarfilm ist Programm. Über 90 Minuten sieht man in "Cow" nämlich fast ausschließlich die Kuh Luma. Menschen bekommt man höchstens ansatzweise zu Gesicht, dafür ist Arnold so nah an Luma dran, dass diese manchmal auch gegen die Kamera kracht. Und immer wieder fokussiert die Britin auf dem Auge ihrer Protagonistin.
Traurig wirkt dieser Blick und verwundern kann dies nicht, denn die 90 Minuten des Films verdichten sich zu einer einzigen Leidensgeschichte. Auf jeden verbalen Kommentar kann Arnold dabei getrost verzichten, sie beschränkt sich darauf zu zeigen und verwendet als Soundtrack die Popsongs, die in einem Radio im Stall laufen.
Wohl einen durchschnittlichen landwirtschaftlichen Betrieb hat Arnold ausgewählt und doch erzählt jede Szene von der Degradierung der Tiers zum Objekt, zum reinen Nutztier, das einzig dazu da ist, Kälber zu gebären und Milch zu liefern, aber keinen eigenen Wert hat. Mit ihrer Fokussierung auf der Kuh macht Arnold Luma aber wieder zum Subjekt und macht die Schrecken ihrer Zurichtung erfahrbar.
Von der Geburt eines Kalbes, das dem Muttertier sofort entzogen und mit der Flasche statt mit Muttermilch aufgezogen wird, bis zur kühlen Schlachtung spannt sich der Bogen. Dazwischen wird diese Kuh mit ihrem unnatürlich großen Euter, das das Gehen schwer beeinträchtigt, an die Melkmaschine angeschlossen und in die Box mit Futtertrog gesperrt, während beim Ausbrennen der ersten Hornansätze des Kalbes sichtbar wird, dass dieser Leidensweg schon unmittelbar nach der Geburt beginnt. In Kontrast zu dieser Zurichtung des Tieres stehen wenige Szenen auf den Wiesen, in denen man spürt, wie die Kühe den Biss ins grüne Gras und den weiten Auslauf genießen.
Radikal ist "Cow" in der Fokussierung auf der Kuh und wirft in diesem insistierenden Blick auf dem Umgang mit dem Tier Fragen nach Menschlichkeit und dem Umgang mit anderen Lebewesen auf, die diesen Film nachwirken lassen.
Gegenpol zum weitgehend kühlen und mechanischen Umgang mit dem Tier bildet der empathische Blick des 63-jährigen Grundschullehrers Günther Bachmann auf seine multikulturelle Klasse in Maria Speths "Herr Bachmann und seine Klasse". Abschreckend wirken die 217 Minuten dieses Dokumentarfilms, doch diese dreieinhalb Stunden vergehen wie im Flug.
Wie Arnold verzichtet auch Speth auf jeden Kommentar, konzentriert sich weitgehend auf das Geschehen in der Klasse und lässt so auch fast ausschließlich den Lehrer und seine zwölf- bis vierzehnjährigen Schüler*innen der 6b der Georg-Büchner-Schule im hessischen Stadtallendorf zu Wort kommen. Höchst inhomogen ist diese Klasse, deren Schüler*innen aus neun Nationen und ganz unterschiedlich Milieus stammen, doch dem Pädagogen, der unübersehbar ein Alt-68er ist, gelingt es mit unkonventionellen Methoden ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihnen zu helfen, den für sie besten Weg zu finden.
Nichts Spektakuläres passiert hier, doch der neugierig entdeckende und geduldig beobachtende, immer einfühlsame Blick, der auch dem Blick Bachmanns entspricht, nimmt von Anfang an für den Lehrer und seine Schüler*innen ein und zeigt, ohne je zu dozieren, wie Integration gefördert werden und gelingen kann.
Weitere Berichte zur 59. Viennale 2021:
- Vorschau auf die 59. Viennale - Shengze Zhus "A River Runs, Turns, Erases, Replaces" + Clio Barnards "Ali & Ava"
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