Die Viennale lebt vom Mix aus kleinen, vielfach innovativen Filmen und großen Festivalhits des Jahres. Zwei Beispiele für Letzere sind Leos Carax´ Musical "Annette" und Audrey Diwans Venedig-Sieger "L´évènement".
Dass Leos Carax nicht kleckert, sondern klotzt, mit jeder Einstellung nach großem filmischem Ausdruck strebt und ständig Kino im Übermaß bieten will, weiß man spätestens seit "Die Liebenden von Pont-Neuf" (1991). Nur vier Kinofilme hat der Franzose in den letzten 30 Jahren gedreht, neun Jahre sind schon wieder seit "Holy Motors" (2012) vergangen. Mit "Annette", der im Juli die Filmfestspiele von Cannes eröffnete, legt er nun sein erstes Musical vor. Für die Musik zeichnen die Brüder Ron und Russell Mael von der Band Sparks verantwortlich, mit denen der Regisseur auch das Drehbuch schrieb.
Dass Carax hier geradezu alles niederreißen und das Publikum mitreißen will, macht schon die einleitende Off-Stimme deutlich. Während die Leinwand noch schwarz ist, erklärt sie, dass man nun zwei Stunden lang den Atem anhalten und höchstens in Gedanken lachen oder weinen soll. Das elektrisierende Spiel mit dem Publikum setzt sich fort, wenn man Carax selbst in einem Tonstudio am Mischpult, die Mael-Brüder ihre Instrumente herrichten sieht und die Schauspieler*innen zu singen beginnen "May We Start". In fulminanter Plansequenz folgt die Kamera dem Ensemble vom Studio auf die Straßen von Los Angeles, ehe die Geschichte damit einsetzt, dass Adam Driver als Comedian Henry sein Motorrad besteigt, während Marion Cotillard als Opernsängerin Ann in einem SUV zu ihrem Auftritt gefahren wird.
Während Henry, der sich wie ein Boxer im grünen Bademantel auf seinen Auftritt vorbereitet, sein Publikum immer wieder provoziert, stirbt Ann allabendlich in ihren Rollen, um sich dann lange zu verbeugen. Ein ungleiches Paar ist das, das sich aber im Song "We Love Each Other So Much" gegenseitig seine Liebe erklärt. Carax erzählt freilich nicht nur von einer Opernsängerin, sondern entwickelt mit fulminanter Farb- und Lichtregie immer wieder selbst eine große Kinooper, gesprochenen Dialog gibt es dabei kaum, die Lieder dominieren.
Die mediale Berichterstattung über Celebrities wird mit eingeschnittenen Show-Biz-Nachrichten über den Stand der Beziehung des Paares von der Heirat bis zur anstehenden Geburt eines Kindes ebenso thematisiert, wie mit dem Auftreten mehrerer Frauen, die Henry sexueller Übergriffe beschuldigen, die #metoo-Debatte Eingang findet. Zeit diese Aspekte zu vertiefen, nimmt sich Carax aber nicht, vielmehr drängt die Handlung mit der titelgebenden Tochter Annette, die freilich als Holzpuppe laut Songtitel ""She’s Out of this World!" eine Außerirdische ist, und dramatischer Auseinandersetzung auf einer sturmgepeitschten Yacht vorwärts.
Immer deutlicher treten dabei aber nicht nur die Abgründe Henrys zutage, sondern auch dass die Story insgesamt doch etwas dünn ist und sich trotz aller filmischen Überwältigung, die ihre Wurzeln auch im französischen Cinema du Look hat, zu dessen zentralen Vertretern Carax in den 1980er Jahren zählte, bei einer Laufzeit von 140 Minuten zunehmend Längen einstellen.
Im Gegensatz zu diesem inszenatorischen Feuerwerk erzählt Audrey Diwan im Venedig-Sieger "L´évènement" nüchtern nach dem autobiographischen Roman von Annie Ernaux von der jungen Anne, die im Frankreich der 1960er Jahre ungewollt schwanger wird und zunehmend verzweifelt nach einer Möglichkeit zur - in Frankreich zu dieser Zeit noch verbotenen - Abtreibung sucht.
Mit Inserts von der 3. bis zur 12. Woche gliedert Diwan nicht nur das Drama, sondern macht auch die zunehmend schwierigere Situation Annes deutlich. Weder bei Ärzten noch bei ihren Freundinnen findet sie Unterstützung, alle fürchten eine Gefängnisstrafe, auch mit ihren Eltern oder dem Kindsvater scheint sie nicht darüber sprechen zu können. Präzise arbeitet Diwan auch heraus, wie die Leistungen Annes als Studentin nachlassen und dass ein Kind ihre Träume von einem Literaturstudium zunichte machen würden.
Die nah geführte, immer wieder im Rücken der Protagonistin folgende Kamera von Laurent Tangy, die Erinnerungen an die weiblichen Außenseiterfiguren der frühen Filme der Brüder Dardenne wie "Rosetta" und "Das Schweigen der Lorna" weckt, vermittelt ebenso Annes angespannte Situation wie das enge 4:3-Format, das die scheinbare Ausweglosigkeit visuell verdichtet. Diwan schreckt aber auch nicht davor zurück dem Publikum mit der detaillierten Schilderung einer versuchten Abtreibung einiges zuzumuten.
Getragen von einer starken Annamaria Vartolomei, die die zunehmend verzweifelte Suche Annes nach Hilfe bewegend vermittelt, entwickelt Diwan so ein schnörkelloses und in der Konzentration auf das Thema dichtes Drama, das zwar in einem – nur knapp angedeuteten - historischen Setting spielt, gleichzeitig angesichts heutiger Abtreibungsdebatten in Texas und Polen aber aktuell und im Plädoyer für die Selbstbestimmung der Frau zeitlos ist. - Kein Platz ist freilich bei einer solchen nüchternen Nachzeichnung der Ereignisse für Ambivalenzen, Irritationen oder Geheimnisse, die Lust darauf machen, einen Film mehrmals zu sehen.
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