Kino als ein Ort, in dem man das Staunen wieder lernen kann: Jon M. Chus erster Teil der Verfilmung des Musicals "Wicked – Die Hexen von Oz" bietet unglaublich bildmächtige und mitreißende Unterhaltung, in der auch aktuelle politische Strömungen thematisiert und kritisiert werden.
Auf der Basis von Gregory Maguires 1995 erschienenem Roman "Wicked – Die Hexen von Oz" schrieben Winnie Holzman (Buch) und Stephen Schwartz (Musik und Liedtexte) das gleichnamige Musical, das seit 2003 am Broadway läuft und 2007 in Stuttgart seine deutschsprachige Erstaufführung feierte.
Angelegt als Prequel zum legendären Märchenfilm "The Wizard of Oz" ("Das zauberhafte Land", 1939) wird darin die Vorgeschichte der "Bösen Hexe des Westens" erzählt. Nicht nur mit seinen Protagonist:innen im Teenager-Alter, sondern auch durch die ethischen und politischen Fragen, die aufgeworfen werden, richtet sich "Wicked" dabei im Gegensatz zum Judy Garland-Klassiker nicht an Kinder, sondern an Teenager und Erwachsene.
Mit einer grandiosen Kamerafahrt durch das Land Oz zieht Kamerafrau Alice Brooks das Publikum von Beginn an ins Geschehen hinein. Auch ohne 3D entwickelt "Wicked" bei diesem Auftakt enorme immersive Kraft, bettet aber gleichzeitig mit einem Seitenblick auf die Verbrennung der "Bösen Hexe des Westens", den Yellow Brick Road und die darauf mit Löwe, Zinnsoldat und Vogelscheuche spazierende Dorothy die Handlung in das Universum von Oz ein.
Die Kamerafahrt endet in einem mittelalterlich wirkenden Dorf, in dem die Nachricht vom Tod der "Bösen Hexe" Begeisterung auslöst. Schon hier entfaltet Jon M. Chu, der schon mit der Komödie "Crazy Rich" (2018) und dem Musical "In the Heights" (2021) gezeigt hat, wie mitreißend er inszenieren kann, unterstützt von seiner Kamerafrau, dem Editor Myron Kerstein, der prachtvollen Ausstattung von Nathan Crowley und den vielfältigen Kostümen von Paul Tazewell einen Rausch an Farben und hohes Tempo.
Die Ankunft der "Guten Hexe" Glinda (Ariana Grande), die die frohe Botschaft nochmals verkündet, leitet eine Rückblende ein, kennt Glinda doch die "Böse Hexe" Elphaba (Cynthia Erivo) aus ihrer Studienzeit. Auch nach den 160 Minuten des ersten Teils wird diese Rückblende nicht abgeschlossen sein, sondern wird wohl im zweiten Teil, der im November 2025 anlaufen soll, fortgesetzt.
Von Anfang an ist dabei freilich klar, dass hier mit den Stereotypen von Gut und Böse gespielt wird, wenn der barbiehaften, blonden und immer rosarot gekleideten Glinda die grüne und stets dunkel gekleidete Elphaba gegenübergestellt wird. Die Erzählung Glindas führt in eine Universität, die Erinnerungen an Harry Potters Hogwarts wecken kann. Gegenpole sind die gefallsüchtige Blondine und die ihren eigenen Weg gehende Elphaba, die von Kindheit an ausgegrenzt wurde.
Die schon in der Antike verbreitete Vorstellung, dass körperliche Gebrechen mit moralischen Defiziten verknüpft sind, stellt "Wicked" so von Beginn an auf den Kopf, wenn gerade Elphaba zur Heldin und Sympathieträgerin aufgebaut wird. Ihre Erfahrungen mit Mobbing, die sich an der Schule fortsetzen, lässt sie für die Schwachen Partei ergreifen, während Glinda zu den Tätern zählt und damit ihr Ansehen bei der Masse steigert.
Unweigerlich Assoziationen an die Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung der Juden im Dritten Reich weckt dabei der Umgang in Oz mit den einst beliebten Tierprofessoren. Aber der Geschichtelehrer, der nicht zufällig ein Ziegenbock ist, kann dabei auch an die klassische Sündenbocktheorie erinnern, bei der der Zusammenhalt einer Gruppe gestärkt wird, indem alles Negative auf einen Außenseiter abgeschoben wird.
Wenn diesen Tierprofessoren die Lehrerlaubnis entzogen wird, einige verschwinden, einige an Flucht denken, dann ergreift nur Elphaba für sie Partei. Sie selbst wiederum wird nur von der Rektorin Madame Akaber (Michelle Yeoh), gefördert, da diese die Zauberkräfte der jungen Frau erkennt. Lernen muss Elphaba freilich noch diese Kräfte zu zügeln, dennoch erhält sie eine Einladung in die Smaragdstadt des Zauberers von Oz, in der "Wicked" nochmals mit einer aufregenden Wendung aufwartet.
Die Schauplatzwechsel vom Dorf am Beginn in die Universität und dort in eine Disco ebenso wie in einen Märchenwald und schließlich mit der Fahrt durch von Windmühlen gesäumte Kornfelder in die in Grün getauchte Smaragdstadt bieten Chu und seinem Team die Möglichkeit, immer wieder neue und spektakuläre Settings zu präsentieren, an denen man sich kaum satt sehen kann.
Fließend gehen dabei immer wieder Dialoge in fulminante Gesangs- und Tanznummern mit einem großen Ballett über und souverän wechseln dynamische Szenen mit ruhigeren Momenten. Mühelos wird so auch das mitreißende Erzähltempo über die doch beachtliche Laufzeit von 160 Minuten durchgehalten.
Sicher hält Chu dabei auch immer die Fäden in der Hand und nie verstellt die spektakuläre Unterhaltung, die geboten wird, den Blick auf die zentralen Themen. Denn im Fluss sind die Figuren, wenn sich auch die Beziehung zwischen Elphaba und Glinda entwickelt und ein scheinbar oberflächlicher Schönling (Jonathan Bailey), an den sich Glinda sofort ranmacht, bald einen facettenreichen Charakter an den Tag legt.
Vor allem aber wird mit dem Besuch beim Zauberer von Oz (Jeff Goldblum) der politische Aspekt verschärft. Nochmals knüpft "Wicked" hier an "The Wizard of Oz" an, wenn auch dieser Zauberer mit billigen Tricks seine Macht aufrecht hält, aber im Gegensatz zum Klassiker ungleich dunklere und durchaus aktuelle Seiten an den Tag legt. Denn da geht es bald um möglichst umfassende Überwachung, um Manipulation des Volkes und um Propaganda, mit der Feindbilder geschürt und kritische Personen ausgegrenzt und zum Freiwild erklärt werden.
Gleichzeitig geht es aber auch auf der individuellen Ebene darum, welche Rolle man selbst in diesem Staat spielen will, ob man, um seine Beliebtheit zu erhalten und Repressionen zu vermeiden, zum Mitläufer wird oder sich treu bleibt, entschlossen seinen Weg geht und sich gegen das Unrechtsregime auflehnt.
Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die mit Fortsetzungen arbeiten, wirkt die Handlung von "Wicked" am Ende des ersten Teils somit noch längst nicht auserzählt, sondern verspricht viel Potential für den zweiten Teil. – Schwer vorstellbar ist allerdings, dass die visuelle Opulenz und Vielfalt, die hier geboten wird, nochmals gesteigert und variiert werden kann, sodass sich ein ähnliches Staunen wie bei diesem grandiosen ersten Teil einstellt.
Wicked
USA 2024
Regie: Jon M. Chu
mit: Ariana Grande-Butera, Cynthia Erivo, Jonathan Bailey, Ethan Slater, Bowen Yang, Marissa Bode, Michelle Yeoh, Jeff Goldblum, Bronwyn James
Länge: 160 min.
Läuft derzeit in den Kinos in unterschiedlichen Fassungen: 2D / 3 D / deutsche Fassung / deutsche Fassung mit deutsch untertitelten englischen Songs / englische Originalfassung
Trailer zu "Wicked"
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