Stefan Haupt reflektiert in assoziativer Abfolge von eigenen Gedanken, Interviews und Ansichten von Zürich über die eigene Befindlichkeit und den Zustand der Welt. – Ein mäandernder poetischer Essayfilm, in dem Haupt leichthändig Privates mit globalen Fragen und Problemen verbindet.
"Wohin geht die Reise?" fragt Stefan Haupt ("Zwingli"), dessen Gedanken vom Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart gesprochen werden, am Beginn. Blicke auf die winterliche Landschaft aus einem fahrenden Zug und dann auf den Zürcher Hauptbahnhof übertragen diese Frage nach der Reise auf die visuelle Ebene. Immer wieder wird Haupt auch in der Folge den Blick auf Bahngleise und den Zürcher Bahnhof richten, doch nicht um eine äußere Reise, sondern um die innere des Regisseurs und der Welt geht es.
Nicht lokale Veränderung, sondern temporale steht so im Zentrum, immer wieder geht es um das Vergehen von Zeit, um Erinnerungen, um Altern und auch um den Tod und um die Gegenüberstellung von Damals und Heute. Als Grundvoraussetzung, dass sich Dinge verändern und auch verbessern können, sieht schon Haupts zehnjährige Tochter Thalia das Vergehen von Zeit, doch der Filmemacher selbst sieht die Entwicklungen in Zürich und in der Welt äußerst skeptisch, ja sogar desillusioniert.
Zwischen Januar 2016 und März 2020 befragte Haupt unterschiedlichste Menschen und fing Bilder aus seiner Heimatstadt ein. Seine in einem Altersheim lebenden Eltern befragt er ebenso wie seine drei Töchter, während sein Sohn nicht im Film auftreten wollte, dem Vater aber erlaubte seine Aussagen zu rezitieren. Mit einem Foto und Home-Videos wird auch an die Familiengeschichte, an die verstorbene Großmutter, die Geburt der jüngsten Tochter Thalia erinnert oder an die Wohnungen, in denen die Familie in Zürich lebte.
Gleichzeitig kommt über die Wohnsituation die Gentrifizierung mit explodierenden Mieten und ein Finanz- und Wirtschaftssystem, bei dem die Unternehmer die Gewinne einstreichen, die Verluste aber die Allgemeinheit bezahlt, ins Spiel. Politikerinnen befragt Haupt ebenso wie einen Verkäufer des Straßenmagazins "Surprise", zwei kambodschanische Flüchtlinge, die in der Familie Haupt aufwuchsen, und den afghanischen Flüchtling Muzafar Shafai, der nun als Koch arbeitet und seit acht Jahren seine Familie nicht mehr gesehen hat.
Über diese Flüchtlingskrise, die inzwischen fast ganz aus den Medien verschwunden ist, denkt der Regisseur ebenso nach wie über den inzwischen fast vergessenen Syrienkrieg, an dessen Schrecken mit Bildern einer zerbombten Stadt erinnert wird.
Nicht wissend und erkennend, sondern suchend und fragend ist Haupts Blick, mit dem er den Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen in der globalisierten Welt nachspürt und den Bogen bis zu den Klimastreiks des letzten Jahres, dem Frauenstreik vom Juni 2019 und der beginnenden Corona-Krise im März 2020 spannt. Was können wir oder was müssen wir angesichts dieser Zustände tun, fragt der 59-jährige Filmemacher und fordert mit der SP-Nationalrätin Jacqueline Badran die globale Verantwortung der Schweiz und der Schweizer ein, die mit der glücklichen Situation, in der man sich in der Eidgenossenschaft befindet, verbunden ist.
Befreit gleitet dieser assoziative Strom von Gedanken, Interviews und den poetischen Bildern von Kameramann Lutz Konermann dahin und ist dennoch so überlegt geschnitten (Schnitt: Christof Schertenleib), dass der Zuschauer nie erschlagen wird und immer den Überblick behält. Leichthändig verbindet Haupt die unterschiedlichen Ebenen und zeichnet durch die Montage nicht nur ein dichtes und vielschichtiges Bild der heutigen Welt, sondern erzeugt auch einen angenehmen und anregenden Flow, der zum Nachdenken über das eigene Leben und zum Handeln angesichts der Zustände, die wütend machen können, anregen kann.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos - z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino in Schaan.
Trailer zu "Zürcher Tagebuch"
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